Das dunkle Fort Simon R. Green Dämonen-Reihe #3 Im Finsterholz nahe der Grenze herrscht stets das Dunkel der Nacht. Ein mächtiges Fort bewacht diesen unheimlichen Teil des Waldes, doch seit einiger Zeit ist der Kontakt abgerissen. Der Ranger Duncan MacNeil wird zusammen mit drei Gefährten ausgesandt, um das Schicksal des Forts und seiner Bewohner zu klären. Die Gruppe findet das Gebäude völlig verlassen vor, und alles deutet auf ein schreckliches Verbrechen hin. Bald stellt sich heraus, dass tief unter dem Fort etwas Unvorstellbares lauert. Und als auch noch Gesetzlose in das Gebäude eindringen, um einen angeblichen Goldschatz zu bergen, schlagen die Mächte der Finsternis zu, und die Ranger müssen sich mit den Verbrechern verbünden. Einer nach dem anderen fällt den Angriffen der Untoten und Trolle zum Opfer, bis Duncan dem mächtigsten aller Dämonen selbst gegenübertreten muss… Der düstere Geniestreich des erfolgreichen Autors von »Das Regenbogen-Schwert«. Simon R. Green Das dunkle Fort »Es ist das Biest. Es weiß, was uns Angst macht.« Im Hag gibt es eine Gegend, in der es nie hell wird. Die hohen Bäume greifen ineinander und schirmen das Tagesicht ab, und nichts, was dort lebt, hat je die Sonne gesehen. Kartographen nennen diese Gegend Finsterholz und warnen: Hier gibt es Dämonen. Vor zehn Jahren dehnte sich das Finsterholz weiter aus, und zum ersten Mal seit ungezählten Jahrhunderten herrschte die lange Nacht über immer weitere Teile des Hags. Aus der Dunkelheit schwärmten Dämonen und entsetzlich verwachsene Gestalten, die alles niedermetzelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie konnten dann zwar aufgehalten und zurückgeschlagen werden, dies kam aber dem Hag und seinen Einwohnern teuer zu stehen. Die lange Nacht zog sich mit ihren Vasallen hinter die ursprünglichen Grenzen des Finsterholzes zurück. In das verwüstete Land kehrte langsam Frieden ein, und man machte sich an den Wiederaufbau. Seit dem Dämonenkrieg sind zehn Jahre vergangen. Allmählich heilen die Wunden im Hag. Im Finsterholz ist es still und leise, und nur wenige Dämonen wagen sich aus der ewigen Nacht hervor. Doch unweit der Grenze liegt in einem Dickicht, das keinen Sonnen- oder Mondenstrahl passieren lässt, ein uraltes Übel, schlafend und in faulen Träumen. In Stein gekratztes Schweigen Duncan MacNeil zügelte sein Pferd und schaute hinter sich. Dünne goldene Sonnenstrahlen drangen durch die Baumkronen und das Halbdunkel des Waldes. Dicht an dicht ragten zu beiden Seiten des ausgetrampelten Pfades hohe Bäume auf, deren Zweige voll von üppigem Sommerlaub waren. Die schwüle, warme Luft roch nach Erde, Blättern und Borke. Ein paar Vögel sangen in den Wipfeln und warnten das Wild vor dem Reiter. MacNeil rutschte ungeduldig im Sattel hin und her. Zwei Wochen schon war er unterwegs. Der Wald hatte für ihn an Reiz verloren, ja, er glaubte, für den Rest seines Lebens auf Bäume durchaus verzichten zu können. Er blickte über den Pfad zurück, doch von seiner Begleitung war noch immer nichts zu sehen. MacNeil senkte die Brauen. Er konnte es nicht leiden, warten zu müssen. Er schaute nach vorn, doch das dichte Gehölz versperrte ihm schon bald die Sicht. Er gab dem Pferd ein Zeichen, im langsamen Schritttempo weiterzugehen. Das Fort an der Grenze konnte nicht mehr weit sein, und es drängte ihn, endlich einen Blick darauf zu werfen. Das dumpfe, gleichmäßige Schlagen der Hufe tönte in der Stille des Waldes laut und vernehmlich. Die Vögel hörten zu singen auf und das Wild hielt sich in den Schatten ringsum zurück. MacNeil führte die Hand ans Schwert, das an seiner Seite hing, und löste die Klinge in der Scheide. Er traute dem scheinbaren Frieden nicht und wollte kein Risiko eingehen. Sein Blick fiel auf eine Gruppe toter Bäume zur Linken. Sie waren verdreht und hohl, von innen heraus verfault. Über das knorrige, kahle Geäst wucherten Flechten. Auch nach zehn Jahren gab es weiterhin Stellen im Hag, die sich von der langen Nacht immer noch nicht erholt hatten. Plötzlich gelangte MacNeil an den Rand einer Lichtung. Er hielt das Pferd an und beugte sich vor. Das Licht war so hell, dass er die Augen mit der Hand abschirmen musste. Er schaute und lächelte. Genau in der Mitte der weiten Lichtung stand die Grenzfeste, ein gewaltiges steinernes Bauwerk mit zwei massiven, eisenbeschlagenen Toren. An Stelle von Fenstern wies es nur eine Reihe von schmalen Schießscharten auf. MacNeil sah sich das Fort genauer an. Die zwei Tore waren fest verschlossen und es schien sich dahinter nichts zu rühren. Unter der späten Nachmittagssonne brüteten die dicken Mauern still und rätselhaft vor sich hin. MacNeil richtete sich im Sattel wieder auf und krauste argwöhnisch die Stirn. Weder an den Toren noch auf der hohen Brustwehr waren Wachposten zu sehen. Da flatterten nirgends Fahnen oder Wimpel und aus keinem der vielen Schornsteine stieg Rauch empor. Falls das Fort besetzt war, machte man sich doch alle Mühe, unbemerkt zu bleiben. MacNeil warf einen Blick über die Schulter zurück. Von den anderen war immer noch nichts zu sehen. Er schaute wieder nach vorn auf das Fort und kniff die Brauen zusammen. Dass er so unvernünftig war und sich so weit von seinen Leuten entfernte, kam nicht häufig vor. Doch vor lauter Neugier erfahren zu wollen, was es mit dem Fort auf sich hatte, konnte er sich nicht länger zurückhalten. Ein Gewitter zog auf. Er spürte es. Am Horizont quellten dunkle Wolken, und es war schon den ganzen Tag über drückend schwül. MacNeil schaute zum Himmel empor und fluchte leise. Er hatte vorgehabt, das Fort von außen in Augenschein zu nehmen und dann die Nacht im Wald zu verbringen. Nun aber deutete alles darauf hin, dass es draußen sehr ungemütlich werden würde, und er hatte keine Lust, im Nassen zu liegen, wenn es ganz in der Nähe trockene Betten gab. Er und seine Leute hatten schon allzu lange bei schlechtem Wetter im Freien campiert. Er reckte sich und straffte die Schultern. Nach all der Aufregung bei Hofe, die um die Grenzfeste entstanden war, hatte er sich diesen Außenposten eigentlich beeindruckender vorgestellt. Grund dieser Aufregung war, dass das Fort schon einen Monat lang nichts mehr von sich hatte hören lassen, weder durch Boten noch Brieftauben. Und von den Boten, die der König ausgeschickt hatte, war keiner zurückgekehrt. Alchimisten und Zauberer versuchten, über Gedanken mit dem Fort Kontakt aufzunehmen, doch irgendetwas verhinderte ihren Zugriff. Die Berichte, die ihm vorgetragen wurden, machten dem König immer größere Sorgen, denn das Fort lag an der Grenze zwischen Hagreich und dem benachbarten Herzogtum von Grundland. Der Grenzverlauf war immer schon strittig gewesen, und in dem Wirrwarr, das auf die lange Nacht folgte, hatte Grundland einige Versuche unternommen, den Streit ein für allemal zu seinen Gunsten zu entscheiden. Daraufhin hatte der König von Hagreich das neue Grenzfort bauen lassen, um den Nachbarn vor Übergriffen abzuschrecken, und tatsächlich war dieser Grenzabschnitt plötzlich wieder friedlich geworden. Der Herzog von Grundland hatte mehrere Drohbriefe geschrieben, aber dann doch die Waffen gestreckt. Bis vor einem Monat. Die Hand auf dem Knauf des Schwertes, beobachtete MacNeil das stille Fort. Nichts deutete auf einen Missstand hin; an den dicken Mauern waren keinerlei Schäden zu erkennen, und auch die Lichtung machte einen ungestörten Eindruck. Seltsam nur, dass sich nirgends irgendwelche Lebenszeichen zeigten. MacNeil wurde nervös. Auch sein Pferd wirkte gereizt. Beruhigend tätschelte er den Hals des Tieres. Das Fort behielt er unverwandt im Blick. Duncan MacNeil war ein groß gewachsener, muskulöser Mann Ende zwanzig. Die zerzausten blonden Haare reichten bis zu den Schultern; ein einfaches Stirnband aus Leder sorgte dafür, dass sie nicht ins Gesicht fielen. Daraus stachen unter einer breiten Stirn zwei blaugraue, aufmerksame Augen hervor. An dem kräftigen Körper war kein Gramm Fett zu viel. Er trainierte fleißig, damit sich daran nichts änderte. Seine Kleidung war schlicht und zweckmäßig und seine lässige Haltung auf dem Rücken des Pferdes ließ erkennen, dass er viel Zeit im Sattel zubrachte. In einer ramponierten Scheide steckte sein Schwert, immer griffbereit. Schon mit fünfzehn war er unter falscher Altersangabe der Garde beigetreten, vor allem aus Lust am Abenteuer. Der Dämonenkrieg hatte ihm zwar den Kopf zurecht gerückt, doch tief im Innern konnte er sich nicht damit begnügen, einfach nur seinen Dienst zu tun und Sold dafür zu kassieren. Er brauchte den Nervenkitzel wie die Suppe das Salz, und dass er ständig darauf aus war, brachte ihn immer wieder in Schwierigkeiten und hatte schon einige Male dafür gesorgt, dass er, kaum befördert, wieder degradiert worden war. Nach einem besonders unglücklichen Vorfall und der Verwüstung einer Schankstube — vorausgegangen war seine Beschwerde über verwässertes Bier, die den Wirt zu heftigen Protesten gereizt hatte —, war er von seinen Vorgesetzten vor die Wahl gestellt worden, sich entweder den Rangern anzuschließen oder für den Rest seines Lebens im Steinbruch des Strafgefangenenlagers zu schuften. Ranger versahen ihren Dienst in kleinen beweglichen Trupps, die als Vorhut größerer Verbände operierten und gefährliches Terrain zu erkunden hatten. Diese kleinen Trupps bestanden aus mutigen, tüchtigen Kämpen, waren aber letztlich entbehrlich. Der Sold war gut, aber MacNeil hätte auch umsonst gedient, was er natürlich nicht laut sagte, weil man ihn womöglich beim Wort genommen hätte. Unter den Rangern fand er so viel Nervenkitzel, wie er brauchte, und noch mehr. Jetzt studierte er das Fort und schmunzelte vor sich hin. Er spürte, vor einer großen Herausforderung zu stehen. Und MacNeil liebte es, herausgefordert zu sein. Das Schmunzeln verschwand allmählich aus seinem Gesicht. Das Problem mit Herausforderungen bestand häufig darin, dass sie viel Zeit in Anspruch nahmen. Die aber war in seinem Fall begrenzt. Er und seine Gefährten mussten in spätestens drei Tagen herausgefunden haben, was es mit dem Fort auf sich hatte. Danach würde ein Bataillon schwer bewaffneter Gardisten anrücken - mit dem Auftrag, das Fort neu zu besetzen. Wenn sie denen bis dahin nicht den Weg geebnet hätten, würden sie — er und die Gefährten - ernste Konsequenzen zu tragen haben. Womöglich würden Köpfe rollen. Und das nicht nur im übertragenen Sinne. Aus dem Hintergrund tönte Hufgetrappel - und wenig später tauchte die Hexe namens Constance aus dem Dunkel des Waldes auf. Sie schloss zu MacNeil auf, warf ihm einen kurzen, lächelnden Blick zu und spähte wachen Auges auf die Lichtung und das Fort hinaus. Constance war eine große, hübsche Brünette, die weniger elegant als stolz und entschlossen im Sattel saß. Sie war um die zwanzig, trug über der schicken Bluse und der schwarzen Hose einen wallenden, hellroten Umhang mit goldener Borte. In dieser Aufmachung gab sie, wie MacNeil fand, eine gute Zielscheibe ab, weshalb es ihn ganz flatterig machte, an ihrer Seite zu reiten. Ihr Gesicht wirkte mager, aber sinnlich; den strahlenden Augen entging nichts. Zwei Kämme aus Elfenbein zähmten ihre lange, nachtschwarze Mähne. Sie war für MacNeils Geschmack ein wenig zu dünn, bewegte sich aber mit großer Anmut, und ihr Lächeln war hinreißend. MacNeil wusste immer noch nicht so recht, was er von Constance halten sollte. Sie war dem Trupp erst vor zwei Wochen zugeteilt worden und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich auszuzeichnen. Wenn sie nur halb so tüchtig wäre, wie sie zu sein behauptete, würde sie es verdienen, beachtet zu werden. MacNeil zweifelte daran. Constance war für die Hexe Salamander, die fast auf den Tag genau vor drei Monaten das Zeitliche gesegnet hatte, in die Gruppe gekommen. Salamander war - auf ihre Art - eine ziemlich gute Hexe gewesen, hatte sich aber nicht nur auf ihre Zauberkünste verlassen, sondern immer auch als Schwertkämpferin behaupten wollen, was ihr am Ende zum Verhängnis geworden war. Sie hatte ihr Schwert gezogen, obwohl sie besser einen Bannstrahl von sich geschleudert hätte, und so war ihr der Bandit mit seiner Axt um einen Wimpernschlag zuvorgekommen. Sie hatte eine tiefe Wunde davongetragen, die sich bald entzündete. Fiebernd und nach ihrem Mann rufend, der schon fünf Jahre lang tot war, starb sie in" einer verlausten Dorfschänke. MacNeil brachte den Banditen wenig später zur Strecke, was ihn aber auch nicht trösten konnte. Er hatte seinen Trupp in das Dorf geführt und behauptet, dass es sicher sei. Es war gar nicht so leicht gewesen, einen Ersatz für Salamander zu finden. Jeder Rangertrupp musste ein Mitglied in seinen Reihen führen, das über Zauberkräfte verfügte. Denn im Wald lauerten noch allzu viele magische Wesen und Umstände, zurückgeblieben aus der Zeit des Dämonenkrieges. Diesem Krieg waren unglücklicherweise auch die meisten Zauberer des Königreiches zum Opfer gefallen, sodass MacNeil mit Hexen vorlieb nehmen musste - zuerst mit Salamander, dann mit Constance. Dass er Constance gewählt hätte, ließ sich allerdings so nicht sagen. In Wahrheit war er dermaßen lange unschlüssig gewesen, dass seine Vorgesetzten die Geduld verloren und ihm die Wahl abgenommen hatten. Constance war sehr viel jünger, als er angenommen hatte, aber da sie in der Akademie der Mondschwestern ausgebildet worden war, hatte er keinerlei Zweifel an ihren Zauberkräften. Aus der Schwesternschaft waren bislang nur überaus tüchtige Hexen hervorgegangen. Entweder schaffte eine Schülerin die Abschlussprüfung mit Bravour, oder aber sie endete in einem anonymen Grab, nachdem man ihren Namen aus allen Listen getilgt hatte. MacNeil nickte der Hexe höflich zu und sagte: »Wir sind angekommen, Constance. Das ist die Feste, die für so viel Unruhe gesorgt hat.« »Sieht ziemlich schäbig aus«, meinte sie. »Hat sich schon jemand blicken lassen?« »Noch nicht. Sobald die anderen nachgekommen sind, schauen wir uns die Anlage aus der Nähe an. Mal sehen, ob sie überhaupt noch bewohnbar ist.« Constance warf ihm einen Blick zu. »Willst du etwa da die Nacht verbringen?« MacNeil zuckte mit den Achseln. »Es zieht ein Gewitter auf, und wenn mich nicht alles täuscht, wird's mächtig stürmen. Du kannst ja draußen schlafen, wenn's dir lieber ist. Ich hätte allerdings zur Abwechslung gern mal ein festes Dach überm Kopf. Du bist noch nicht lange im Einsatz, Constance. Als Erstes solltest du lernen, Annehmlichkeiten dankbar in Anspruch zu nehmen, wo immer sie sich bieten. Denn unsereins kommt nur selten in ihren Genuss. Bis es dunkel wird, bleibt uns noch genügend Zeit, das Fort gründlich zu inspizieren.« Constance schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Sergeant, ich glaube…« »Constance«, sagte MacNeil in freundlichem Ton, »unser Trupp hat nur einen Anführer, und das bin ich. Ich habe mir für dich Zeit genommen und dir meine Gründe dargelegt, weil du neu bei uns und zum ersten Mal im Einsatz bist. Immer werde ich das nicht tun. Wenn ich etwas befehle, erwarte ich, dass entsprechend gehandelt wird, und zwar widerspruchslos. Ist das klar?« »Vollkommen«, antwortete Constance kühl. Sie wandte sich von ihm ab und musterte das Fort mit großer Aufmerksamkeit. »Ich nehme an, du wirst schon bemerkt haben, dass auf der Brustwehr keine Wachposten stehen.« »Ja.« »Ob sie alle fahnenflüchtig sind?« MacNeil zuckte mit den Schultern. »Möglich. Aber was könnte dann mit den vielen Boten passiert sein, die der König ausgeschickt hat?« Constance schürzte die Lippen und tat nachdenklich. Sie wollte MacNeil beeindrucken, konnte aber auf die große Distanz zu dem anscheinend verlassenen Fort nichts erkennen, was ihnen weitergeholfen hätte. Sie musste noch lernen, ihr Zweites Gesicht zu gebrauchen, jene magische Mischung aus Voraussicht und Einsicht, was ihr jedoch Schwierigkeiten bereitete. Die ließen sich leider nur durch Erfahrung überwinden, weshalb man sie in einen Rangertrupp gesteckt hatte. Dort würde sie am schnellsten von einer Hexe zur Zaubermeisterin aufsteigen können. Wenn sie denn überlebte. Sie hörte Geräusche im Rücken, drehte sich um und sah die anderen aus den Schatten des Waldes auftauchen. Flint und der Tänzer lenkten ihre Pferde über den krummen Pfad. Beide waren sehr gewandt und zeigten sich völlig entspannt. Jessica Flint war eine gut aussehende Brünette Ende zwanzig. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten wie ein Mann und hätte eine rundliche Figur gehabt, wenn sie weniger muskulös gewesen wäre. Sie war eine tüchtige Schwertkämpferin und sah auch so aus. Das lange ramponierte Kettenhemd ließ die Arme ungeschützt. Bluse und Leggins waren alt, aber gepflegt. Immer zeigte sie ein offenes, heiteres Gesicht, selbst wenn sie kämpfte, was nicht selten der Fall war. Sie zählte zu den wenigen, die die letzte große Schlacht des Dämonenkrieges vor den Mauern der Hagburg überlebt hatten. Davon zeugten noch etliche Narben und der Umstand, dass ihrer linken Hand zwei Finger fehlten. Ihr Schwert steckte in einer langen, geschwungenen Scheide, die mit feinem Silberschmuck beschlagen und kostbarer war als Schwert und Pferd zusammengenommen. Flint konnte mit Recht sehr stolz darauf sein. Giles der Tänzer ritt an ihrer Seite — wie immer. Unauffällig gekleidet und ohne Harnisch, war er schlank von Gestalt und mittelgroß. Sein ebenmäßiges Gesicht hatte kaum markante, individuelle Züge. In einer größeren Menschenmenge bliebe er unbemerkt. Er war ein Schwertmeister, ein Mann, der so vollkommen zu fechten gelernt hatte, dass er mit einem Schwert in der Hand kaum zu bezwingen war. Schwertmeister hatte es auch schon vor dem Dämonenkrieg nur wenige gegeben; inzwischen, so hieß es, gab es im ganzen Hag nur zwei von ihnen, und der Tänzer war einer der beiden. Er verhielt sich immer sehr still und höflich, und sein Blick war flüchtig und scheu. Keiner wusste genau, wie viele Männer er schon getötet hatte; man munkelte, dass er sich selbst nicht mehr erinnerte. Er und Flint waren Partner seit sie dem Trupp von MacNeil angehörten. Sie standen in dem Ruf, jeden Job zu Ende zu bringen, koste es, was es wolle. Die beiden waren nicht durchweg beliebt, aber Respekt wurde ihnen überall entgegengebracht. Sie waren nunmehr schon fast sieben Jahre mit MacNeil zusammen, nicht zuletzt deshalb, weil er der Einzige war, der sie halbwegs unter Kontrolle halten konnte. Sie respektierten ihn. Meistens. An Flint gewandt, sagte der Tänzer, als sie auf die beiden anderen zuritten: »Wir müssten bald da sein, oder, Jessica?« »Ja«, antwortete Flint geduldig. »Weshalb hast du es so eilig? Bislang sind alle, die sich dem Fort genähert haben, spurlos von der Bildoberfläche verschwunden.« »Das waren Stümper«, sagte der Tänzer. »Wir sind besser.« »Du wirst immer selbstgefälliger«, entgegnete Flint. »Eines Tages gerätst du noch an jemanden, der tatsächlich so gut mit dem Schwert umgehen kann, wie du's zu können meinst, und dann bin ich womöglich nicht zur Stelle, um den anderen hinterrücks abzustechen und dich zu retten.« »Dazu wird's nie und nimmer kommen«, sagte der Tänzer. Flint schnaubte verächtlich. »Ich kann kaum erwarten, mich im Fort umzusehen«, begann der Tänzer. »Ein Geheimnis zu lüften kommt mir als Abwechslung sehr gelegen. Ein verlassenes Fort, entlegen, den Elementen preisgegeben… Da läuft's einem doch kalt den Rücken runter. Was meinst du?« »Du hast wieder diesen albernen Bänkelsängern zu lange zugehört«, schimpfte Flint. »Was kann ich dafür, dass ich tief im Innern so romantisch bin?« »Du bist krank, wenn du mich fragst. Aber jammere mir nichts vor, wenn du wieder mal Albträume hast. Du weißt selbst, wie sehr dir diese Schauergeschichten nachhängen.« Flint blickte nach vorn auf Constance, die neben MacNeil am Ende des Pfades geduldig wartete. »Giles«, fragte sie, »was hältst du eigentlich von unserer neuen Hexe?« »Sie macht einen ganz tüchtigen Eindruck.« »Ist aber noch grün hinter den Ohren. Sie hat noch nie bei einer richtigen Mission mitgemacht. Wer weiß, wie sie unter Druck reagiert.« »Sie wird sich schon eingewöhnen. Gib ihr Zeit.« »Ein echter Ersatz für Salamander ist sie jedenfalls nicht. Die kannte sich aus.« Der Tänzer schaute Flint schmunzelnd an. »Du konntest Salamander doch nicht ausstehen. Gib's zu.« »Ich hab sie nicht besonders gut leiden mögen, zugegeben, aber sie hatte ihre Stärken. Wir haben hier eine gefährliche Mission zu erfüllen. Da stört eine neue, unerfahrene Hexe doch nur. Wenn sie Mist macht, geht's uns womöglich allen an den Kragen.« »Wenn's heute Nacht gewittert, wird sie vielleicht vom Blitz erschlagen«, antwortete der Tänzer. »Du machst dir viel zu viele Gedanken, Jessica.« »Und du machst dir zu wenige.« »Du denkst ja für mich mit.« »Das muss ich wohl«, sagte Flint. Schweigend ritten sie auf MacNeil zu. »Gibt's was Besonderes zu melden?«, fragte der. »Nein«, antwortete Flint. »Wir sind noch mal ein kurzes Stück zurückgeritten, für den Fall, dass uns jemand folgt, aber dem ist nicht so. Tatsächlich sind wir schon seit Tagen keiner Menschenseele mehr begegnet. Der Wald scheint hier in dieser Gegend ganz und gar verlassen zu sein. Da ist nirgends eine Siedlung oder ein Gehöft.« »Kein Wunder. Wir sind ja auch ganz in der Nähe der Grenze zum Finsterholz«, erklärte MacNeil. »Aber da rührt sich so bald nichts mehr«, meinte der Tänzer. »Nicht zu unseren Lebzeiten.« »Das ist nicht gesagt«, entgegnete Flint. »Nein«, bestätigte Constance. MacNeil schaute die Hexe an. Sie starrte mit düsterem Blick auf die Lichtung hinaus. »Was ist los?«, fragte MacNeil leise. »Siehst du was?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Constance. »Aber mir scheint, das Fort…« »Was ist damit?« »Tief in der Erde hat es früher Riesen gegeben«, flüsterte sie. Dann erschauerte sie merklich, schaute weg und schlang den Umhang fester um sich. »Mir gefällt's hier nicht.« MacNeil runzelte die Stirn. »Siehst du was… Bestimmtes?« »Nein. Meine Sicht ist hier verschwommen. Aber ich habe in den vergangenen drei Nächten von diesem Fort geträumt. Es waren schreckliche Träume, und jetzt, da ich vor Ort bin… Diese Lichtung ist kalt, Duncan. Kalt wie ein Grab. Und das Fort ist finster. Es fühlt sich alt an, uralt.« MacNeil schüttelte den Kopf. »Mir scheint, dir geraten Gefühle und magische Eingebungen durcheinander. Dieses Fort ist nicht alt. Es wurde vor nicht mehr als vier oder fünf Jahren gebaut. Und etwas anderes hat's hier vorher nicht gegeben.« »Aber da ist etwas«, sagte Constance. »Und das schon seit langem…« Ihre Stimme wurde immer dünner. Flint und der Tänzer sahen einander an. Sie sagten nichts, verstanden sich auch ohne Worte. MacNeil wusste, was ihnen durch den Kopf ging. Eine solche Aussage aus dem Munde Salamanders wäre ernst genommen worden. Sie hatte das Zweite Gesicht, und wenn sie einen Ort für gefährlich hielt, dann war er es auch. Punkt. Doch diese neue Hexe… ihre Fähigkeiten waren noch nicht wirklich auf die Probe gestellt worden, und bevor sie sich nicht bewährt hatte, würde keine ihre Warnungen ernst nehmen. Constance schaute MacNeil an und erwartete eine Antwort. »Indem wir hier stehen bleiben und Maulaffen feilhalten, werden wir über das Fort nichts in Erfahrung bringen«, sagte er in gewollt ruhigem Tonfall. »Sehen wir uns innerhalb der Mauern um, und wir werden bald wissen, ob es möglich ist, die Nacht dort zu verbringen.« Er gab seinem Pferd die Sporen und lenkte es auf die Lichtung hinaus. Flint und der Tänzer folgten; ganz zum Schluss setzte sich auch Constance in Bewegung. Sie hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. Ihr Blick wirkte sehr kalt. Als er aus der Deckung der Bäume heraustrat, spannte MacNeil unwillkürlich die Muskeln an. Es hatte sich zwar noch keine Gefahr gezeigt, doch nach so langer Zeit im Wald fühlte er sich auf freier Flur entblößt und verwundbar. Die Lichtung hatte einen Durchmesser von gut einer halben Meile, war kreisrund und wie mit Axt und Säge aus dem Wald herausgeschnitten worden. MacNeil schaute sich argwöhnisch nach allen Seiten hin um. Nirgends bewegte sich etwas, und es war verdächtig still auf der Lichtung. Da sang kein einziger Vögel, und es summten nicht einmal Insekten. Erst jetzt gewahrte er, dass schon den ganzen Tag über eine ungewöhnliche Stille im Wald geherrscht hatte. Es war kein Wild und kein Vögel zu entdecken gewesen. Vielleicht hatten sich alle Tiere vor dem heraufziehenden Gewittersturm ins Unterholz verzogen. Jetzt war nur das Getrappel der Pferdehufe zu hören; es tönte laut in der Stille, und MacNeil drängte sich zunehmend der Verdacht auf, beobachtet zu werden. Sie näherten sich dem Fort. Die hohen Mauern schimmerten gelblich und fahl; das natürliche Weiß der Bruchsteine war durch Sonne, Wind und Regen verfärbt worden. Die Schießscharten waren leer, die Wehrgänge verlassen und das große Doppeltor fest verschlossen, gerade so, als würde das Fort belagert. MacNeil blickte suchend über das Gras der Lichtung. Es gab keine Spuren, die darauf hingewiesen hätten, dass jemand vor kurzem hier gewesen war. Anscheinend war von den ausgeschickten Boten keiner so weit gekommen. Dieser Waldabschnitt war berühmt und berüchtigt für seine vielen Wegelagerer und Banditen. Zwar wurden die wichtigen Verbindungswege streng bewacht, doch auf den Nebenstrecken gingen einzelne Reisende ein hohes Risiko ein. Räuber, Meuchler und Gauner aller Art hatten in den Nach-kriegswirren diese Gegend zu ihrer Domäne gemacht. Etliche gefürchtete Banden wie die von Jimmy Klumpfuß oder Ketten-Kaal hatte man gejagt und zur Strecke gebracht, doch nun trieben deren Nachfolger ihr Unwesen. Der Wald zog aber beileibe nicht nur böse Menschen an; es gab auch solche wie Tom von der Heide, der sich verirrter Wanderer annahm, oder Vogelscheuchen-Jack, den verrückten Kauz, der sich selbst als Baumbeschützer bezeichnete und an arme Leute verteilte, was er den Reichen und Fetten, die sein Revier passierten, abgenommen hatte. Dennoch war der Wald sehr gefährlich und die Boten des Königs hatten ebenso viel zu befürchten wie jeder andere, der allein unterwegs war. Kopfschüttelnd blickte MacNeil auf die Grenzfeste. Er wollte endlich Bescheid wissen und war überzeugt davon, dass er hinter den Mauern seine Fragen beantwortet finden würde. Er blickte zur Sonne auf, die sich auf die Baumwipfel senkte. In spätestens zwei Stunden würde es dunkel sein. Zur Lösung der Rätsel um das Fort blieb ihm nicht allzu viel Zeit. In drei Tagen würde das Bataillon eintreffen. Bis dahin musste Klarheit geschaffen sein. MacNeil seufzte. Das hatte man davon, der Beste zu sein, dachte er. Es wurde von einem nicht nur Unmögliches verlangt, sondern das auch noch nach festgelegtem Zeitplan. Vor dem Haupttor angekommen, zügelte er sein Pferd und wartete darauf, dass die anderen aufrückten. Still lag das Fort vor ihnen. Der gelbe Stein spiegelte die letzten Sonnenstrahlen. MacNeil starrte mit unguten Gefühlen auf das verrammelte Tor. Kein Lüftchen regte sich und die Stille zerrte an seinen Nerven. Es schien, als wartete das Fort ab, was er zu tun gedachte, um ihm sein Geheimnis abzuringen. Er richtete sich kerzengerade im Sattel auf, holte tief Luft und rief mit lauter Stimme: »Hallo! Hier ist der Ranger Sergeant Duncan MacNeil. Im Namen des Königs, öffnet das Tor!« Eine Antwort blieb aus. Zu hören war nur das verhaltene Gewieher eines der Pferde. »Du hast doch nicht erwartet, dass sich jemand meldet, oder?«, fragte Constance. »Nein, nicht wirklich«, antwortete er. »Aber es gehört sich wohl, dass man erst einmal anfragt. Manchmal hat man sogar Erfolg damit.« »Diesmal aber nicht.« »So sieht's aus. Flint…« »Ja, was ist?« »Versuch doch mal, das Tor zu öffnen.« »Zu Befehl.« Flint stieg aus dem Sattel und reichte dem Tänzer die Zügel ihres Pferdes, der sie lose um den linken Arm wickelte. Langsam ging Flint auf das Tor zu, um es sich aus der Nähe anzusehen, und zog die Waffe, einen Krummsäbel mit blitzblank polierter Klinge. Groß und unheimlich ragte das Tor vor ihr auf. Sie musterte das dunkle, mit Eisenbeschlägen verstärkte Holz genau, streckte die Linke aus und rüttelte kräftig an beiden Flügeln, die aber keinen Deut nachgaben. Daraufhin hämmerte sie mit der Faust dagegen, wuchtig und laut. Als das Pochen verhallt war, sah sie sich nach MacNeil um. »Fest verrammelt, wie's scheint.« »Wer hätte das gedacht«, sagte Constance. »Lasst mich mal.« Plötzlich umwirbelte die vier ein scharfer Windschwall, und es wurde merklich kühler. Die Pferde warfen unruhig die Köpfe auf und ab. MacNeil flüsterte seinem Hengst ein paar beruhigende Worte ins Ohr und fasste die Zügel enger. Wie mit unsichtbaren Schwingen wühlte Zauberei die Luft auf und die schweren Holzflügel knarrten und quietschten. Sie zitterten sichtlich, als würde sich jemand von hinten dagegenwerfen. Und dann war zu hören, wie Metall über Metall kratzte; die schweren Riegel rutschten in der Führung zurück, worauf sich mit scharfen Klicklauten die Zuhaltungen im Schloss bewegten. Während Constance ein zitterndes Seufzen vernehmen ließ, öffneten sich die beiden Torflügel vor einem offenen, leeren Innenhof. Die Hexe schmunzelte triumphierend. Sofort legte sich der Wind wieder, doch es blieb unnatürlich kalt, trotz der hellen Sonnenstrahlen. Constance bedachte MacNeil mit herausforderndem Blick und verbeugte sich höflich. »Nicht schlecht, Constance. Aber Salamander hätte nur halb so lange dafür gebraucht.« »Ihr drei tut so, als wäre diese Salamander die größte Hexe gewesen, die es je gegeben hat.« »Sie war sehr gut in ihrem Job«, sagte MacNeil. »Und warum ist sie dann jetzt tot?« »Sie hatte Pech«, antwortete Flint. »Davor ist niemand gefeit.« Sie ging zu ihrem Pferd zurück und ließ sich von Giles die Zügel geben. Danke, Jessica, dachte MacNeil. Nur gut, dass du so geschickt vermitteln kannst. Flint sah ihn ruhig an. »Fertig zur Inspektion?« »Na klar«, antwortete MacNeil. »Reite du voraus.« Sie nickte und führte ihr Pferd in den Innenhof. MacNeil und der Tänzer gaben ihr Flankenschutz; Constance folgte zum Schluss. Die weite gepflasterte Fläche war vollkommen leer. Die dunklen Fenster in den Mauern ringsum sahen aus wie die Höhlen geblendeter Augen. Der Tänzer griff zum Schwert. MacNeil tat es ihm gleich, und das raue Flüstern der aus der Scheide gezogenen Klinge verhieß Blut, Schrecken und plötzlichen Tod. Das Geräusch hallte scheinbar unaufhörlich durch den leeren Innenhof, als weigerte es sich zu verstummen. MacNeil schaute auf das Schwert des Tänzers und nicht zum ersten Mal sträubten sich ihm dabei die Nackenhaare. Dessen Klinge war lang, breit und zweischneidig. So völlig ohne Schmuck oder Verzierung war es das einfache, brutale Mordwerkzeug, als das es von Giles auch gehandhabt wurde. MacNeil dagegen trug ein langes schlankes Schwert und er brachte sowohl Schneide als auch Spitze zum Einsatz - nach den Regeln der Fechtkunst und nicht wie ein Schlächter, worauf er Wert legte. Er sah sich um und betrat den Hof. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch stärker. MacNeil kniff die Brauen zusammen. Die Szenerie gefiel ihm ganz und gar nicht. Wo zum Teufel steckten die Soldaten? Die Tore waren von innen verriegelt und zugesperrt; es musste jemand hier sein… irgendwo… MacNeil erschauerte plötzlich. Da ging wohl gerade ein Gespenst über mein Grab, dachte er, doch zum Scherzen war ihm eigentlich ganz und gar nicht zumute. Auf einer Ebene, die so tief war, dass er sie nicht auszuloten wusste, überschattete eine uralte Angst seine Gedanken. Er blickte zu den dunklen Fenstern auf und empfand ein Zittern in der Seele, ein nacktes Entsetzen wie seit Jahren nicht mehr, nicht mehr, seit er sich damals in der langen Nacht einer Horde von Dämonen gegenüber gesehen und gewusst hatte, dass er ihnen nicht widerstehen konnte… MacNeil schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Es galt einen Auftrag zu erfüllen. Er lenkte sein Pferd an den Rand, stieg aus dem Sattel und wickelte die Zügel um eine Holzstange. Die anderen ließen nicht lange auf sich warten. MacNeil schaute auf die verschiedenen Tore, um sich zu orientieren. Ein Fort ist wie jedes andere - und bald hatte er den Haupteingang ausgemacht. Die Pforte lag dem Tor zum Innenhof genau gegenüber und stand einen Spaltbreit offen. Dahinter war nichts als undurchdringliche Dunkelheit zu erkennen. MacNeil ging auf den Eingang zu, blieb aber auf halbem Weg stehen und schaute sich um. Ihm war, als hätte er etwas gehört. Er lauschte angestrengt, doch da war nur das Sausen des auffrischenden Windes vor den Außenmauern. MacNeil runzelte die Stirn, als ihm auffiel, dass viele der Fenster, die zum Innenhof hinauswiesen, die Schlagläden vorgezogen hatten. Verrückt, dachte er; es wird dahinter heiß sein wie in einem Ofen. Das Wort verrückt ging ihm wie ein Echo durch den Kopf. Um davon loszukommen, konzentrierte er sich auf das, was er sah. Die Ställe lagen zur Rechten, die Mannschaftsquartiere zur Linken. Auch deren Eingangstore standen ein Stück offen. Er bemerkte, dass Constance neben ihn getreten war und nervöse Blicke um sich warf, als suchte sie nach einer sicheren Zuflucht. »Du hast gesagt, das Fort sei neu«, sagte sie plötzlich, ohne ihn anzusehen. »Weißt du, warum man es an dieser Stelle erbaut hat? Hat diese Lage eine Besonderheit, von der ich etwas wissen sollte?« »Du weißt das meiste schon«, antwortete MacNeil. »Die Grenze zwischen unserem Königreich und Grundland verläuft genau durch die Mitte dieser Lichtung. Das Fort soll diesen Abschnitt sichern, was ihm ja bislang auch gelungen ist.« Constance krauste die Stirn. »Soviel ich weiß, hat Grundland an Zauberkunst nicht viel zu bieten. Ein Fort dieser Größe auszuschalten liegt jenseits seiner Möglichkeiten.« MacNeil betrachtete sie mit nachdenklicher Miene. »Spürst du was? Irgendeinen Zauber oder unmittelbare Gefahr?« Constance schloss die Augen und zog sich auf ihr Zweites Gesicht zurück. Durch das geöffnete innere Auge kamen ihr nun Bilder und Empfindungen zu. Das Fort war kalt und leer wie ein verlassener Sarg, und doch schien es etwas zu behausen… etwas Schreckliches. Sie sammelte sich, versuchte, Einzelheiten aufzuspüren, konnte aber Genaues nicht erkennen. Fest stand nur, dass in nächster Nähe Gefahr lauerte. Constance fühlte eine große Macht wirken, und sie spürte Unheil. Ein klopfender Schmerz machte sich in ihrer Stirn bemerkbar; die Eindrücke verwischten. Seufzend schlug sie die Augen wieder auf. Wie immer nach solchen Gesichten fühlte sie sich ausgelaugt und müde. Trotzdem gab sie mit ruhiger, sicherer Stimme Auskunft. Sie wollte nicht für schwächlich gehalten werden und MacNeil eines Besseren belehren, der offenbar meinte, dass sie kein angemessener Ersatz für Salamander sei. »Sergeant, da ist was, aber ich kann mir kein genaues Bild davon machen. Es hat auf jeden Fall magische Wirkung, ist sehr mächtig und sehr alt. Mehr weiß ich darüber noch nicht zu sagen.« Etwas Altes, dachte MacNeil; es ist nun schon das zweite Mal, dass sie in diesem Zusammenhang das Wort alt gebraucht, obwohl sie weiß, dass das Fort erst vor wenigen Jahren gebaut wurde. »Also gut«, sagte er. »Wenn wir hier die Nacht verbringen wollen, müssen wir einen möglichst geschützten Winkel finden. Flint, Giles, seht euch in den Ställen um und kümmert euch um die Pferde. Constance, du kommst mit mir. Wir schauen uns die Quartiere an.« Flint und der Tänzer nickten und zogen in Richtung Ställe ab. MacNeil wandte sich dem gegenüberliegenden Gebäude zu. Constance eilte ihm nach. Sie wollte keinen Augenblick allein sein. Die Stille machte ihr zu schaffen, und das Bild, das sie im Geiste erschaut hatte, verunsicherte sie zutiefst, zumal sich ihr das Gefühl aufdrängte, dass sie auf diesem Bild sehr viel mehr hätte erkennen müssen. MacNeil bemerkte, wie eilig sie es hatte, zu ihm aufzuschließen. Auch er war froh, in Begleitung zu sein. Vor der Tür zu den Unterkünften hielt er an. Wie all die anderen Türen, die er vom Hof aus gesehen hatte, war auch diese ein Stück geöffnet. MacNeil spitzte die Lippen und dachte nach, konnte sich aber auf seine Beobachtung keinen Reim machen. Vorsichtig stieß er mit der Stiefelspitze gegen die Tür, die widerstandslos aufschwang. Das Schwert gepackt, trat er ins dunkle Innere. Durch den Ausschnitt der Tür und die zugezogenen Schlagläden sickerte Licht. Schnell bewegte sich MacNeil von der Tür weg. Seine Silhouette vor dem hellen Hintergrund hätte eine allzu gute Zielscheibe abgegeben. Er zog Constance an seine Seite und wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann sah er auf allen Oberflächen eine dicke Staubschicht liegen. Staubflocken schwebten in den dünnen Lichtstrahlen. Die Luft war feucht und roch muffig. Wie in einem Mausoleum, dachte er und fragte sich, wie er wohl auf diesen Vergleich gekommen war. In der Mitte des Raumes zwischen zwei Reihen von Pritschen lag umgekippt ein Stuhl, auf dem dunkle Flecken zu sehen waren. MacNeil hörte Constance zischend Luft holen und plötzlich ging ein strahlendes Leuchten durch den Raum, als die Hexe den rechten Arm über den Kopf hob. MacNeil fluchte vor Schreck und schirmte mit der freien Hand die Augen ab. »Das nächste Mal will ich vorgewarnt sein.« »Entschuldige«, sagte Constance atemlos. »Aber sieh dir den Stuhl an, Duncan, sieh nur…« Die dunklen Flecken waren Blut - altes, vertrocknetes Blut. MacNeil senkte die Hand und sah sich schnell um. Es gab insgesamt fünfzig Pritschen, die in zwei exakt ausgerichteten Reihen an den Wänden standen. Auf jeder Matratze lag eine zerwühlte, blutverschmierte Decke. »Mein Gott«, flüsterte Constance. »Was um alles in der Welt ist hier geschehen?« MacNeil schüttelte den Kopf. Er brachte kein Wort über die Lippen. Im silbernen Licht, das aus der erhobenen Hand der Hexe leuchtete, waren dunkelrote Spritzer an den Wänden, dem Fußoden und der Decke zu sehen. Man hätte meinen können, in einen verlassenen Schlachthof geraten zu sein. Die Laken auf den Matratzen waren ausnahmslos zerfetzt, anscheinend von Schwertern oder Äxten. Zwei Pritschen waren regelrecht zu Kleinholz verarbeitet worden. Überall lagen Splitter; in den Wänden staken dicke Späne, als wären sie dort hineingehämmert worden. Vorsichtig bewegte sich MacNeil durch den Raum. Constance blieb bei der Tür und leuchtete mit silbrig strahlender Hand. MacNeil stocherte mit der Schwertspitze in einer der Pritschen. Er fühlte sich seltsam benommen, konnte nicht fassen, was er da sah. Blut, Gewalt und Tod waren ihm gewiss nicht fremd, doch der Anblick dieser leeren, blutdurchtränkten Betten hatte etwas Entsetzliches. Was war das bloß für ein Ungeheuer, das fünfzig Soldaten massakriert und deren Leichen dann weggeschafft hatte, ohne eine eigene Spur zu hinterlassen? Eine solche Gräueltat hatte er seit dem Dämonenkrieg nicht gesehen. Und es gab im Hag keine Dämonen mehr. MacNeil ging neben einer der Pritschen in die Hocke und warf einen Blick auf den Boden darunter, sah aber nichts als Staub und noch mehr eingetrocknetes Blut. So viel Blut… Er richtete sich auf und blickte zurück auf die Hexe neben dem Eingang. »Constance.« »Ja?« »Was siehst du hier?« Die Hexe schloss die Augen und öffnete ihr Zweites Gesicht. Schlagartig verschwand das Licht aus ihrer Hand. Überrascht von plötzlicher Dunkelheit, klammerte MacNeil die Hand noch fester um den Schwertgriff. Er starrte vor sich hin und lauschte angestrengt, gefasst darauf, dass sich jemand heranschleichen würde. Doch es blieb still. Allmählich stellten sich seine Augen auf die spärlichen Lichtverhältnisse um und er konnte Constances Umrisse neben der offenen Tür ausmachen. Er sah, wie sie den Blick auf ihn richtete, und hörte sie seufzen. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Aber ich kann nichts erkennen. Da müsste was zu sehen sein, aber es bleibt mir verborgen. Irgendetwas hier im Fort verstellt mir die magische Sicht.« MacNeil legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist's ein ganz natürlicher blinder Fleck.« »Ich weiß nicht. Hast du noch nicht bemerkt, wie kalt es hier ist?« »Kein Wunder hinter so dicken Mauern, wo kein Sonnenstrahl nach innen dringt.« »Daran liegt's nicht allein«, entgegnete die Hexe. Erst jetzt fiel MacNeil auf, dass die ausgestoßene Atemluft vor den Lippen dampfte, und die Finger waren so durchfroren, dass er das in der Hand gehaltene Schwert nicht mehr spürte. So langsam war ihm die Kälte in die Glieder gefahren, dass er davon nichts gemerkt hatte. »Vielleicht sollten wir lieber wieder nach draußen gehen«, sagte er. Mit erhobenem Schwert wich er zur Tür zurück und wagte es nicht, den besudelten Pritschen den Rücken zu kehren. Als er den Ausgang erreichte, war Constance schon in den Hof hinausgetreten. Einen Augenblick lang blieb er in der Tür stehen. Fünfzig Betten. So viel Blut… Er trat nach draußen, zog die Tür hinter sich zu und wandte sich der Hexe zu. »Was nun?«, fragte sie. Mit einer Kopfbewegung deutete MacNeil auf das Hauptportal. »Mal sehen, ob sich da drüben eine Antwort findet.« Gefolgt von Constance, überquerte er mit schnellen Schritten den Hof, auf dem es nach der Kälte im Schlafquartier fast unerträglich warm war. Er stieß die Pforte auf und betrat einen Vorraum, der so aussah wie in jedem anderen Fort. Es war eine einfache, schmucklose Kammer mit einem Schreibtisch und einem halben Dutzend unbequemer Stühle. Auffällig waren nur die vier dicken Seile, die von einem Deckenbalken herabhingen und in Schlingen endeten. Die Henkersknoten sahen dilettantisch geknüpft aus, schienen aber ihren Zweck durchaus erfüllen zu können. Unter jedem Seil lag umgekippt ein Stuhl am Boden. MacNeil stand neben der Tür und schluckte. Es war nicht schwer, sich vier Gefangene vorzustellen, die auf die Stühle steigen und die Köpfe durch die Schlinge stecken mussten, worauf man dann die Stühle unter ihnen wegtreten würde, einen nach dem anderen… »Vielleicht sind von der Belegschaft einige verrückt geworden«, sagte Constance. »Mag sein«, antwortete MacNeil. »Lagerkoller, so was soll's ja geben. Pferch eine Gruppe bewaffneter Männer auf engem Raum und über längere Zeit zusammen, und es wird früher oder später mächtig krachen. Es sei denn, da ist ein halbwegs erfahrener Kommandant, der solche Entwicklungen früh genug erkennt und umzubiegen versteht. Meldungen von Meutereien hat es aus diesem Fort nie gegeben. Soweit ich weiß, gab es nie irgendwelche Probleme. Das ergibt alles keinen Sinn. Wenn vier Männer gehängt wurden, wo sind dann ihre Leichen? Warum hätte man sie wegschaffen, die Schlingen aber hängen lassen sollen? Ich versteh das nicht. Auf jeden Fall scheint hier Schreckliches passiert zu sein.« »Ja«, sagte Constance. »Und ich fürchte, es ist noch nicht vorbei damit.« MacNeil warf ihr einen irritierten Blick zu. Die Hexe starrte vor sich hin; ihre Miene ließ Angst erkennen. Flint und der Tänzer sahen sich im Stall um. Das durch die offenen Türen fallende Licht drängte die Schatten zurück. Die hölzernen Pferdeboxen waren zerschlagen, die Wände wie von Klauen zerkratzt, und überall klebte getrocknetes Blut. »Ekelhaft«, bemerkte Flint. Der Tänzer nickte. »Allerdings.« »Dämonen?« »Unwahrscheinlich.« »Aber es ist deren Handschrift.« »Der Krieg ist seit zehn Jahren vorbei. Seitdem hat sich kein Dämon mehr aus dem Finsterholz hervorgewagt.« Flint verzog das Gesicht. »Das heißt nichts. Vielleicht regen sie sich wieder.« Der Tänzer ging in die Knie und untersuchte das blutverschmierte Stroh am Boden. »Interessant.« »Was?« Flint kauerte sich neben ihn. »Sieh mal, Jessica. Überall Blut, aber nirgends Schleifspuren oder sonstige Hinweise darauf, wie die Pferde, nachdem man sie abgestochen hat, hier herausgeschafft worden sind.« »Stimmt«, staunte Flint. »Das ist wirklich interessant.« Wie auf Kommando sprangen beide auf und gingen unwillkürlich in Kampfposition - Rücken an Rücken und mit ausgestrecktem Schwert. Die Schatten ringsum schienen sich noch weiter verfinstert zu haben. Die Luft war trocken, still und seltsam kalt. Darin hing der Geruch von Tod und Verwesung. Flint scharrte beunruhigt mit den Füßen und bewegte die drei Finger ihrer linken Hand. Das vernarbte Gewebe, dem offenbar die Kälte zusetzte, fing unangenehm zu jucken an. Flint zitterte plötzlich. Da lauerte eine Gefahr. Sie spürte es ganz deutlich und konnte sich auf ihre Instinkte voll verlassen. »Was auch immer hier geschehen sein mag«, sagte der Tänzer, »ich bin sicher, es lässt sich nicht auf natürliche Weise erklären.« »Unsere Pferde werden wir hier wohl nicht unterbringen können«, meinte Flint. »Ich wette, sie würden Reißaus nehmen. Komm, schauen wir uns das Hauptgebäude an. Vielleicht finden wir da einen Platz zum Übernachten.« »Gute Idee.« »Dann lass uns gehen. Mir ist es hier nicht geheuer.« »Du bist nicht allein«, beruhigte der Tänzer. »Wie gesagt, du solltest dir diese Bänkelsänger nicht so oft anhören. Du wirst noch schlimm träumen heute Nacht.« »Würde mich nicht überraschen. Hier lässt sich bestimmt nicht gut schlafen.« Flint schmunzelte. »Mag sein. Aber hast du einen anderen Vorschlag, wie wir herausfinden können, was hier passiert ist?« Sie traten nach draußen. Flint zog das Tor hinter sich zu und überquerte an der Seite des Tänzers den Hof, die Hand am Säbel und mit wachen, aufmerksamen Blicken. Ihre Schritte hallten hohl von den hohen Mauern wider. Das Licht nahm ab, und die Schatten wurden länger. Flint und der Tänzer hatten die Pferde schließlich im Vorraum hinter dem Haupteingang untergebracht. Hier zu verweilen war auch nicht viel angenehmer als anderenorts im Fort. Die Tiere verdrehten die Augen, als sie zur Tür hereinkamen, und musterten den kahlen Holzboden voller Argwohn, ließen sich aber dann doch darauf nieder. Flint zündete eine Laterne an und drang, vom Tänzer gefolgt, tiefer ins Haus ein. MacNeil und Constance zu finden war nicht schwer. Sie brauchten nur den Spuren auf den dick mit Staub bedeckten Dielen zu folgen. MacNeil erwartete sie mit erhobenem Schwert. »Ich dachte, da verfolgt uns jemand«, sagte er und senkte die Waffe. »Was Interessantes entdeckt?«, fragte der Tänzer. »Nein. Nur leere Räume, Staub und Blut.« Spuren von Blut waren tatsächlich überall zu sehen, als Spritzer unter den Decken, Rinnsale an den Wänden und Lachen auf den Böden. So viel Blut… »Hoffst du noch darauf, eine lebende Seele zu finden?«, fragte Constance. »Nicht wirklich«, antwortete MacNeil. »Aber wer weiß ?« Zu viert streiften sie langsam durchs Fort, Korridor um Korridor, Kammer für Kammer. Die Flure waren ausnahmslos kahl und schmucklos; kein einziger Wandbehang oder Teppich belebte das triste Gemäuer. In den Räumen, die samt und sonders leer standen, lag allenthalben eine dicke, unberührte Staubschicht. Als Hinweise auf das Massaker, das sich hier ereignet hatte, fanden sie einzig und immer wieder eingetrocknetes Blut, zerschlagenes Mobiliar und jene rätselhaften Kratzspuren an den Wänden. Schließlich blieb nur noch der Keller zu durchsuchen. Er bestand im Wesentlichen aus einem einzigen Raum von rund zwanzig Schritt Seitenlänge und lag voller Gerumpel. Zwei geöffnete Türen führten in kleinere Lagerräume. Vorsichtig bahnte sich MacNeil einen Weg durch das Chaos. Da gab es Haufen von Feuerholz, Säcke voller Lumpen und stapelweise Altpapier neben unbrauchbaren Möbeln und Weinfässern. Dazwischen lag Abfall verstreut und alles starrte vor Dreck. MacNeil steuerte auf die Mitte des Raumes zu, gab Acht, wohin er trat, und schaute sich angewidert um. »Ich habe schon Jauchegruben gesehen, die sauberer waren«, sagte er. »Hast du auch schon einen Blick auf die Wände geworfen?«, fragte der Tänzer. »Ja«, antwortete MacNeil. »Blutflecken gibt es hier unten jedenfalls nicht.« »Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?«, fragte Flint. »Keine Ahnung.« »Lasst uns wieder nach oben gehen«, schlug Constance vor. »Hier stimmt etwas nicht.« Die anderen sahen sie an. Die Hexe zitterte am ganzen Leib. »Was ist los mit dir?«, fragte MacNeil. »Was hast du gesehen?« »Hier stimmt etwas nicht«, wiederholte Constance und starrte vor sich hin, als hätte sie ihn nicht gehört. MacNeil warf einen Blick in die Runde, schüttelte den Kopf und ging auf die Hexe zu. Er nahm ihren Arm und sagte: »Komm, wir gehen, Constance. Und beruhige dich.« Sie nickte ihm dankbar zu und ließ sich nach oben fuhren. Flint und der Tänzer folgten. Sie gelangten schließlich in den Speisesaal im hinteren Teil des Forts. Er war gut zwölf Schritt lang und sieben breit. Auf Böcken liegende Tischplatten standen in geraden Reihen ausgerichtet. Wie im Keller waren auch hier die Wände frei von Blut- und Kratzspuren. Die Tische waren noch gedeckt und auf manchen Tellern lagen Essensreste, eingetrocknet, voller Staub und verschimmelt. Da standen geöffnete wie auch ungeöffnete Weinflaschen herum. Es war, als hätten die Tischgenossen noch während der Mahlzeit ihre Plätze verlassen. »Hier werden wir heute Nacht zu schlafen versuchen«, ordnete MacNeil an. »Der Raum ist offenbar weitgehend verschont geblieben. Außerdem hat er nur einen einzigen Zugang und lässt sich deshalb gut verteidigen.« »Willst du wirklich die Nacht über hier bleiben?«, fragte Constance. »Nach allem, was wir gesehen haben?« MacNeil musterte sie mit kühler Miene. »Es war nichts zu sehen, wovon wir uns unmittelbar bedroht fühlen müssten. Was hier so gewütet hat, ist allem Anschein nach längst abgezogen. Hier ist es sicherer und bequemer für uns als draußen im Wald, über den bald ein Gewitter hereinbrechen wird. Wir wechseln uns mit der Wache ab, und morgen stellen wir hier alles auf den Kopf. Irgendwo muss eine Antwort zu finden sein.« »Ich denke, wir sollten uns hier möglichst zurückhalten«, meinte Constance. »Sonst vernichten wir aus Versehen noch Beweismaterial.« »Sie hat Recht«, sagte der Tänzer. MacNeil zuckte mit den Achseln. »Na schön, was wie ein Beweismittel aussieht, rühren wir nicht an. Aber darum kümmern wir uns erst morgen. Unser Sold ist nicht hoch genug, dass wir jetzt auch noch nachts über Dienst schieben.« »Genau«, stimmte Flint zu. »So viel Geld gibt's auf der ganzen Welt nicht.« »Also dann, richten wir uns hier unser Lager ein«, sagte MacNeil. »Es wird bald dunkel sein.« »Dunkel«, flüsterte Constance. »Ja, es wird hier sehr dunkel werden.« Die drei anderen sahen die Hexe an, was sie aber nicht bemerkte; so tief war sie in Gedanken versunken. Draußen im Wald stand eine einsame Gestalt, schaute mit neugierigem Blick auf das Fort, zog sich dann in die Schatten der Bäume zurück und war im nächsten Augenblick verschwunden. In der Dunkelheit der Nacht Die Nacht kam schnell. Kaum eine Stunde nachdem die Ranger den Speisesaal bezogen hatten, senkte sich die Dunkelheit über das Fort. Flint und Constance zündeten die Fackeln an, die an den Wänden steckten, während MacNeil und der Tänzer brennende Kerzen und Öllampen rund um die Schlafstelle im Kreis anordneten. Es gab zwar keiner offen zu, aber bei Licht war allen sehr viel wohler zu Mute, würden sie doch früh genug sehen können, falls jemand zu einem Anschlag auf sie ansetzte. Flint und der Tänzer gingen zu den Pferden und holten das hinter den Sätteln zusammengerollte Gepäck. Sie blieben in den engen Gängen dicht beieinander und hielten ihre Laternen in die Höhe. Die langen Schatten waren sehr schwarz. Während dann Flint und Constance die Schlafmatten in der Mitte des Speisesaales ausrollten, machten sich MacNeil und der Tänzer daran, Tischplatten und Böcke zu einer Art Barrikade zusammenzurücken. Die war zwar nicht sehr standfest, vermittelte aber immerhin ein Gefühl von Schutz und Sicherheit, und darauf kam es an. Trotz der vielen Kerzen, Lampen und Fackeln war der Raum beklemmend düster und voll ruheloser Schatten. Auf jedes Geräusch folgte ein leises Echo, das an den Nerven kratzte, und draußen fegte heulend ein kräftiger Wind über das Fort. Aber all das machte den Rangern nicht viel aus; nach dem langen Ritt waren sie so müde, dass sie fast im Stehen einzuschlafen drohten. Flint meldete sich freiwillig für die erste Wache, was die anderen begrüßten. Sie legten sich Seite an Seite unter die Decken und fanden es beruhigend, so nah beieinander zu sein. Weil es zunehmend kalt wurde, erwog MacNeil im offenen Kamin Feuer zu machen, entschied sich aber dagegen. Die Mühe wäre größer als der Nutzen, und außerdem - es war Sommer; so kalt konnte es gar nicht sein. Er zog seine Decken bis über die Ohren. Der Boden war hart und uneben, aber er hatte schon auf noch unbequemeren Unterlagen geschlafen. Und er war bereits so müde, dass die Augen von allein zufielen. Er gähnte, kratzte sich die Rippen und seufzte zufrieden. Es tat gut, endlich die Beine entlasten zu können. Flint ging dem Tänzer zur Hand und richtete dessen Decken. Er war in solchen Dingen ziemlich hilflos. Auch mit dem Besatteln seines Pferdes tat er sich schwer, und wenn er sich selbst versorgen müsste, würde er wahrscheinlich verhungern. Dafür hatte er andere Talente, weshalb die anderen ein Auge zudrückten, wenn er sich ungeschickt anstellte. Als Flint fertig war, nahm sie neben ihm Platz. »Ein Zimmer mit Bad wäre besser gewesen«, sagte sie leise. »Ein bisschen Wasser würde uns gut bekommen.« »Es reicht, wenn du für dich sprichst«, entgegnete der Tänzer. »Das tu ich ja«, sagte sie. »Ich habe einmal mit einem wandelnden Leichnam gekämpft, der sechs Monate lang unter Torf begraben lag, aber trotzdem nicht so schlimm roch wie ich zurzeit. Sei's drum. Morgen ist auch noch ein Tag. Schlaf jetzt, Giles. Ich weck dich dann zur nächsten Wache.« Der Tänzer nickte müde, legte sich zurück und schloss die Augen. Flint lächelte ihn liebevoll an, zog dann ihren Säbel und legte ihn griffbereit über die Knie. Sie wähnte sich auf alles vorbereitet. Constance kam fröstelnd aus einem Winkel zurück, der ihnen allen als Latrine diente, und stieg an MacNeils Seite unter ihre Decken. »Morgen suchen wir uns als Erstes ordentliches Nachtgeschirr. Eine Suppenterrine ist kein guter Ersatz dafür.« MacNeil kicherte schläfrig und hielt die Augen geschlossen. »Gute Nacht, Constance. Angenehme Träume.« Es wurde still im Speisesaal. Zu hören waren nur der Wind, der immer heftiger wehte, und leise Schnarchlaute von Giles, der schon eingeschlafen war. Er würde sich auch nicht von lauten Donnerschlägen stören lassen. Unzufrieden mit ihrer Lage auf dem harten Boden, wälzte sich Constance für eine Weile von einer Seite auf die andere, aber dann wurde auch sie ruhig. Ihr Atem ging leicht und gleichmäßig, die Gesichtszüge entspannten sich. MacNeil lag auf dem Rücken und döste vor sich ihn. Ab und zu öffnete er die Augen und starrte unter die hohe, umschattete Decke. Es war nicht ungefährlich, in diesem Fort zu nächtigen, doch das Risiko erschien ihm durchaus überschaubar. Das, was hier blutrünstig gewütet hatte, war jetzt offenbar nicht in der Nähe. Wer mochte dahinter stecken? Der Dämonenkrieg hatte zahlreiche Unwesen aus tiefem Schlaf geweckt, der von den Menschen allein sonst nicht gestört worden wäre. Die Geschichte dieses Landstrichs lag tief vergraben in der Erde, drohte aber nach der langen Nacht wieder in Erscheinung zu treten. Manche der tieferen Bergwerksschächte waren nach der Entdeckung versiegelt worden, die Bergleute darin gemacht hatten. Damals wohnten Riesen in der Erde… MacNeil rutschte unruhig hin und her. Wenn er sich irrte und das Unheil immer noch im Fort steckte - nun, in dem Fall wäre ein Köder gelegt, der es aus der Deckung hervorlocken würde. MacNeil schmunzelte freudlos. Ja, Ranger waren im Grunde nichts anderes. Sie hatten die Aufgabe, den Feind zu stellen und seine Stärken und Schwächen offen zu legen. Der einzige Unterschied zu einem Köder bestand darin, dass Ranger Zähne hatten und selbst zubeißen konnten. MacNeil warf einen Blick auf Flint, die eine Hand auf dem Säbelgriff liegen hatte und vor sich hin stierte. Er war froh, dass Flint freiwillig die erste Wache übernommen hatte. Er konnte ihr voll vertrauen. Bei dem Tänzer wusste man nie, ob er nicht womöglich doch einnickte, wenn er es sich bequem gemacht hatte. Um wach zu bleiben, ging er deshalb die ganze Zeit auf und ab, was aber die anderen dann nicht zur Ruhe kommen ließ. Und Constance… mit ihr hatte er, MacNeil, noch keine Erfahrung gemacht. Er schloss die Augen und entspannte sich. Ja, auf Flint war Verlass. Er gähnte. Der Tag war lang und anstrengend gewesen… Flint wachte über die schlafenden Gefährten. Allmählich brannten die Lichter herab. Die Dämonen schwärmten aus der langen Nacht herbei, bösartig und gemein, und die Wachen hinter den Barrikaden der Stadt stellten sich ihnen mit ihren Waffen, mit siedend heißem Öl und dem Mut der Verzweiflung in den Weg. Duncan MacNeil hielt ihnen stand, schlug mit seinem Schwert in kurzen, wuchtigen Schwüngen um sich und streckte einen nach dem anderen nieder. Doch der Ansturm riss nicht ab. Gestalten wie aus Alb- und Fieberträumen fielen mit ihren Klauen und gefletschten Zähnen über ihn her, und ihre Augen glühten gierig in endloser Nacht. Blut spritzte von schwirrenden Klingen und Äxten. Dämonen starben zu Häuf, doch es rückten immer weitere nach. Sie kamen ohne Zahl. Ein langes, spindeldürres Wesen mit gezacktem Rückgrat und Krallenhänden bäumte sich vor MacNeil auf. Sich duckend wich er einem mörderischen Schwinger aus und stieß dem Gegner die Schwertspitze in den Leib. Das Gedärm platzte daraus hervor und spulte sich zuckend vor seinen Beinen ab. Trotzdem griff das Ungeheuer weiter an, bis MacNeil ihm mit einem beidhändig geführten Hieb den knochigen Kopf vom Hals trennte. Lautlos geiferte das Maul auf dem von Blut überschwemmten Boden, und es dauerte noch eine Weile, bis auch der schwankende Körper endlich in sich zusammensackte. Dämonen gaben keinen Laut von sich, auch nicht, wenn sie starben. Als böse Gedanken, die Gestalt angenommen hatten, waren sie still, ob lebendig oder tot. Auf Fledermausschwingen flatterte etwas aus der Dunkelheit hervor, das so groß war wie der Kopf eines Mannes, ein dichtes schwarzes Fell und ein Dutzend Beine besaß. MacNeil zerschlug es in der Luft. Es zerplatzte und ließ faulig stinkenden Seim auf ihn nieder regnen, der seine entblößte Haut ätzend traktierte. Er war noch abgelenkt, schüttelte sich und fluchte, als ein Flickendämon mit gewaltigem totenbleichem Rumpfund großen sichelförmigen Kiefern wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihn zu Boden stieß. Im ersten Augenblick sah er nichts als ein Durcheinander von Menschen- und Dämonenbeinen, die im blutdurchtränkten Schlamm umherstolperten. Er schlug nach dem bleichen Dämon aus, doch der kam ihm zuvor und hackte ihm die Krallen ins zerrissene Kettenhemd. Vor Schmerzen schrie er laut auf und wehrte sich in seiner Verzweiflung mit einem wuchtigen Fußtritt, worauf der Dämon das Gleichgewicht verlor. MacNeil nutzte die Gelegenheit und sprang auf. Doch als er wieder auf den Beinen stand, war der Dämon auch schon verschwunden, fortgetragen von den drängenden Leibern. Dafür bekam er es nun mit anderen zu tun. MacNeil wischte sich mit dem Ärmel Blut und Schweiß vom Gesicht und verschaffte sich Platz, indem er das Schwert kreisen ließ. Er legte all seine verbliebene Kraft in die Schläge und metzelte Gegner um Gegner nieder. Die Dämonen kamen inzwischen von allen Seiten und die Nacht war nicht dunkel genug, um das Grauenvolle, das sie anrichteten, zu verbergen. MacNeil kämpfte weiter. Er wusste nicht, wie viele Dämonen er bereits getötet hatte. Mit dem Zählen hatte er längst aufgehört. Es kamen ihm immer mehr vor die Schwertspitze. Beidhändig hielt er das Heft gepackt, und wenn er mit der Klinge auf Dämonenknochen traf, fuhr ihm ein schmerzendes Schüttern durch die Arme. Überall gellten Schreie durch die Nacht; nahebei fluchte jemand unablässig mit heiserer Stimme. Da war das Schluchzen einer Frau zu hören, das schlagartig verstummte. Und so plötzlich, wie sie aufgekreuzt waren, zogen sich die Dämonen wieder zurück und verschmolzen lautlos mit der endlosen Nacht. MacNeil stützte sich auf sein Schwert und schnappte nach Luft, die schwer nach Blut und Tod stank. Die Muskeln an Armen und Rücken taten unerträglich weh — und er war sterbensmatt. Die Verschnaufpausen zwischen den Attacken der Dämonen wurden immer kürzer. Sie eilten in die Schlacht wie Schweine an den Trog, unersättlich in ihrer Blutgier. So stark er auch war, MacNeil wusste, dass ihm die Kräfte schwanden, eher früher als später. Schwerfällig richtete er sich auf und schaute in die Runde. Überall lagen Gefallene; die Barrikaden waren fast vollständig eingerissen. Niemand hatte die Kraft, sich um die Verwundeten zu kümmern. Viele Leichen zeigten Fraßspuren. Die Dämonen hatten immer Hunger. Um sich vor der bitterkalten Nacht zu schützen, raffte MacNeil seinen zerrissenen Umhang fester zusammen. Seine Hände zitterten, und das nicht allein vor Kälte. Von einem Sternenlosen Himmel leuchtete der Blaue Mond. Das Finsterholz hatte die Herrschaft an sich gerissen. Königseck wurde von Dämonen belagert. Die kleine Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten - wie lange schon, wusste von den Verteidigern kein Einziger mehr. Der Albtraum schien kein Ende zu nehmen, und es war, als hätte es immer schon nichts anderes gegeben. Über dem Finsterholz ging keine Sonne mehr auf; da waren nur die Nacht und attackierende Ungeheuer. MacNeil packte das Schwert fester, doch es konnte ihm keinen Mut mehr machen. Er hatte sich immer für besonders tapfer gehalten, aber das war vor dem Krieg gewesen. Damals hatte er gegen Wegelagerer, Schmuggler und Spione aus Grundland gefochten und über Gefahren nur lachen können. Er war stark und gut und schnell mit dem Schwert und noch nie vor einem Duell zurückgeschreckt. Im Unterschied zu den meisten anderen Gardisten hatte es ihn immer zum Kampfeinsatz gedrängt. Er liebte es, wenn das Blut in Wallung geriet, und war geradezu süchtig nach Ruhm. Dann aber brach der Krieg aus. Er wurde zur Verteidigung von Königseck gerufen und sah sich diesen Horden scheußlicher Kreaturen gegenüber, die in immer größerer Zahl aus der Dunkelheit herbeischwärmten. Er hatte seinen Posten hinter den Barrikaden eingenommen, gefochten und getötet, bis ihm die Arme schmerzten und der Harnisch mit Dämonenblut besudelt war. Doch es half nichts. Aus den eigenen Reihen fiel einer nach dem anderen; es machte sich Verzweiflung breit und die Belagerung wollte nicht enden. MacNeil lehnte sich an die Barrikade und machte für einen Moment die Augen zu. Vor Müdigkeit zitterte er am ganzen Körper. Schweiß und Blut rannen ihm übers Gesicht. Einem neuerlichen Angriff würde er nicht standhalten können. Unmöglich. Er schlug die Augen wieder auf und warf einen Blick zurück auf die Stadt. Da und dort flackerten aus dem Dunkel ein paar Lampen. Es gab nicht mehr viele, die sich darum kümmerten, Licht zu machen. MacNeil betrachtete sein Schwert. Davon tropfte immer noch das Blut von Dämonen, doch er brachte nicht mehr die Kraft auf, die Klinge sauber zu wischen. Ja, er hatte sich stets für tapfer gehalten. Fast zwei Jahre lang hatte er den Gesetzen des Königs mit seiner Waffe Nachdruck verliehen, und Verbrecher gejagt, damit auf den Straßen Sicherheit herrschte. Er war stolz auf seinen Mut und seine Kraft, und sie hatten ihn nie im Stich gelassen. Bis er schließlich nach Königseck kam, wo die Dämonen ihn das Fürchten lehrten. So viele er auch von ihnen umbrachte, es kamen immer mehr aus der Dunkelheit nach, getrieben von Hass und Unersättlichkeit. MacNeil gab alles, was er hatte, um sie aufzuhalten, doch es war nicht genug. In Erwartung eines weiteren Ansturms starrte er hinaus in die endlose Nacht. Er rechnete mit seinem baldigen Tod und fürchtete, qualvoll sterben zu müssen. Die Dämonen hatten ihn tatsächlich das Fürchten gelehrt. Und er wusste mittlerweile, was Panik und Verzweiflung waren. Er sah auf die aufgebrochene Barrikade und fragte sich, warum er eigentlich noch seine Stellung hielt. Königseck bedeutete ihm nichts. Sie war eine von vielen kleinen Städten im Hinterland, wichtig allenfalls für ihre Einwohner. Und dass sie früher oder später fallen würde, ließ sich ohnehin nicht vermeiden. "Wenn er bliebe, würde er mit ihr fallen. Wenn er denn bliebe. Er dachte angestrengt nach. Warum sollte er bleiben? Der Hauptmann, von dem er seine Befehle erhalten hatte, war tot. So auch die Mehrzahl der Gardisten. Er würde sich klammheimlich aus dem Staub machen und in der Dunkelheit ungesehen verschwinden können. Niemand würde Notiz davon nehmen. Nur er selbst. MacNeil schüttelte den Kopf. In all den Liedern, die er kannte, wurden ausnahmslos Helden besungen, für die es ganz und gar undenkbar gewesen wäre, Reißaus zu nehmen. Sie hatten ihre Stellung bis zum bitteren Ende gehalten. Dennoch, es war etwas anderes, hier draußen im Dunklen zu stehen, einem Feind gegenüber, der an Zahl und Stärke immer weiter zuzunehmen schien… Er merkte auf. Da regte sich was. Auch andere spürten es und setzten sich in Bewegung, um die Lücken in den Barrikaden zu schließen. MacNeil packte sein Schwert und wunderte sich über die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen und das getrocknete Blut wieder anfeuchteten. Er verbat sich zu weinen, konnte aber nicht aufhören. Vor Kälte, Müdigkeit und Schmerzen konnte er sich kaum mehr aufrecht halten und musste trotzdem kämpfen. Es war doch nicht gerecht, dass man ihm so viel abverlangte. Er hatte sein Bestes gegeben; mehr war nicht drin. Ausgeschlossen. Die Dunkelheit schien überzukochen, als die Dämonen wieder attackierten und in lautloser, mörderischer Wut gegen die Barrikaden anstürmten. Das Schwert schwingend, hielt MacNeil stand. Stinkendes Blut spritzte umher. Die Füße drohten auf dem glitschigen Untergrund auszurutschen. Die Muskulatur in Armen und Rücken schmerzte wie toll, doch er kämpfte weiter, hob und ließ das Schwert immer wieder niedersausen. Er fing zu wimmern an und biss sich auf die Lippen, bis sich ihm der Mund mit eigenem Blut füllte. Die Dämonen durchbrachen die Barrikade und warfen ihn zurück. Doch er wehrte sich mit allem, was er aufbringen konnte. Die Mitstreiter fielen zu Häuf Ihre Schreie waren noch lange zu hören. Von allen Seiten drängten die Dämonen herbei. MacNeil drosch auf sie ein. Nein. Nein, so war es nicht. Die lange Nacht ging zu Ende; es dämmerte, und mit der Dunkelheit zogen sich die Dämonen zurück. Königseck war gerettet. Ich habe überlebt. Das weiß ich doch. Ich bin ja dabei gewesen. So war es nicht. Die Dämonen schwärmten über ihn weg, und da war nichts als undurchdringliche Dunkelheit. Ein leichter Wind flüsterte im Moor und silbrig schimmerte das Mondlicht auf der Nebelbank im Morgengrauen. In weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgehen. Jessica Flint befand sich immer noch allein auf dem alten Friedhof. Sie zog den Mantel enger um sich. Wäre sie wieder in der Kaserne, könnte sie nichts mehr hinter dem Ofen hervorlocken, es sei denn, es bräche ein Krieg aus. Und der Sergeant, dem sie diesen Dienst nun zu verdanken hatte, konnte sich auf etwas gefasst machen. Sie schaute sich um. Die Moorlandschaft dehnte sich nach allen Seiten hin aus. Im Mondlicht war alles voller Silber und Schatten. Am Horizont, über eine halbe Meile weit entfernt, lag die kleine Ortschaft Burg Mills, zu der der Friedhof gehörte. Den Dörflern zuliebe hielt Flint zu dieser frühen Stunde hier draußen im Moor Wache und schnatterte vor Kälte. Sechs Monate zuvor war ein gesuchter Mörder und Frauenschänder gestellt und von den Dorfbewohnern am Ort seines letzten Verbrechens im Rahmen ausgelassener Feierlichkeiten aufgeknüpft worden. Um den Friedhof nicht zu entweihen, hatte man die Leiche im Torf verscharrt. Einen Monat später war der Tote hervorgekrochen und ins Dorf zurückgekehrt, wo er vier Frauen mit bloßen Händen umbrachte, ehe er überwältigt, gefesselt und mit brennenden Fackeln verscheucht werden konnte. Er verschwand, wo er hergekommen war: im Moor. Aber er tauchte nun Monat für Monat wieder auf. Um sich vor ihm zu schützen, stellte man Wachen auf, sobald die Sonne unterging. Aber nun richtete das Scheusal seine Aufmerksamkeit auf den Friedhof, der seinen sterblichen Überresten vorenthalten worden war. Er hob Gräber aus, zerschlug Särge und verging sich an den Leichen. So musste auch der Totenacker bewacht werden. Das Unglückslos war auf Flint gefallen. Sie warf einen Blick auf die mit Öl getränkte Fackel, die neben einem Grabstein stand. Falls der Unhold aufkreuzte, würde Flint die Fackel anzünden, denn nur mit Feuer — und das aus nächster Nähe -ließ er sich vertreiben. Flint krauste die Stirn und legte die Hand auf den Knauf des Säbels, der an ihrer Seite hing. Gegen einen Untoten hatte sie noch nie gekämpft. Vielleicht, so dachte sie, wäre bei dem Monstrum der Einsatz der Klinge am Ende doch wirkungsvoller als eine brennende Fackel. Sie zuckte mit den Achseln und sah sich nach allen Seiten um. Der Friedhof war nicht mehr als ein Flecken unebener Erde mit einem Dutzend verwitterter Steine und einigen windschiefen Holzkreuzen. Der Geruch, der hier herrschte, war auch nicht besonders zu genießen. Flint vermutete, dass die Bewohner von Burg Mills von der Möglichkeit des Einbalsamierens nicht einmal gehört hatten. Ein schwacher Laut ließ sie aufmerken. Sie wirbelte herum und zog den Säbel. Die Stelle, an der der Mörder im Moor verscharrt worden war, lag weniger als hundert Schritt weit entfernt. Die dunkle, feuchte Oberfläche glänzte im kalten Mondlicht. Flint fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und erstarrte, als plötzlich eine klauenähnliche Hand aus dem Morast hervorbrach. Schmier troff von den zuckenden Knochenfingern. Langsam wuchs die Hand weiter empor; ihr folgte ein langer dürrer Arm, dann ein Schädel. Flint traute ihren Augen nicht, schüttelte sich und kramte Feuerstein und Stahl aus der Tasche, um die mitgebrachte Fackel anzustecken. Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei sie zu feucht geworden, aber dann fing der ölige Brennstoff Feuer. In der einen Hand die brennende Fackel, in der anderen den gezogenen Säbel wandte sie sich dem Ungeheuer zu. Die Torfdecke gab nur widerstrebend nach. Mit einem lang anhaltenden schmatzenden Laut schlüpfte der Untote zum Vorschein. Wankend stand er am Rand der Sumpfmulde, drehte den Schädel und starrte Flint entgegen. Seine Haut war fleckig und geschrumpelt, wirkte aber fast unversehrt. Augen hatte er keine mehr, und doch spürte Flint, dass der Unhold sie sehen konnte. Zerfetzte Lumpen, von Schmier und Fäulnis zusammengehalten, bedeckten das Gerippe. Schlamm kleckerte von ihm ab, als er sich in Bewegung setzte - gezielt auf Flint zu. Na schön, dachte sie. Jetzt muss ich also was tun für meinen Sold. Mit hoch erhobener Fackel stellte sie sich dem Scheusal in den Weg. Das Mondlicht schimmerte hell auf der Klinge ihres Krummschwertes, das sie ihm entgegenstreckte. Er torkelte auf sie zu. Die Knochenfinger krallten und streckten sich zuckend. Flint wartete bis zum allerletzten Augenblick und schlug mit dem Säbel nach ihm aus. Erstaunlich schnell wich das Gerippe zur Seite aus und ließ die Waffe ins Leere stoßen. Flint geriet für einen kurzen Moment aus dem Gleichgewicht, und noch ehe sie zurückweichen konnte, hielt der Untote sie beim linken Handgelenk gepackt. Seine Knochen bohrten sich tief in ihr Fleisch, und obwohl sie bereits blutete, ließ sie die Fackel nicht fallen. Sie holte kurz mit der Klinge aus und hackte auf den Unterarm der Moorleiche ein. Plötzlich befreit, stolperte sie zurück, hatte aber noch die abgeschlagenen Knochen am Handgelenk. Und obwohl rücklings zu Boden gestürzt, war es ihr irgendwie gelungen, an Säbel und Fackel festzuhalten. Das Monstrum starrte auf den Stumpf des Unterarms. Daraus trat kein Tropfen Blut hervor. Umso bleicher schimmerte das freigelegte Gebein im Mondlicht. Flint schüttelte die Knochenhand ab. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte sie. Schlag ihm den Kopf ab und die Beine, verbrenn den Rest im Feuer der Fackel, und er wird keinem Menschen mehr ein Leid antun. Sie sprang auf, stolperte aber prompt wieder und schlug so unglücklich zu Boden, dass ihr die Luft wegblieb. Säbel und Fackel glitten ihr aus der Hand. Auf dem nassen Boden verlosch die Flamme. Keuchend raffte sich Flint auf und griff nach dem Säbel. Doch das Monstrum war eher zur Stelle. Nein, das ist doch so nicht gewesen. Mit der Hand, die ihm noch geblieben war, ergriff es die Waffe. In seinem augenlosen Gesicht machte sich ein Grinsen breit. Hektisch wich Flint zurück. Nein, so war's nicht. Ich habe das Scheusal zur Strecke gebracht. Der Tote ragte über ihr auf, groß und finster und schrecklich. Mondlicht glitzerte auf der Klinge, als er sie hoch über den Kopf hob und niedersausen ließ, wieder damit ausholte und abermals zuschlug, ausholte und zuschlug… Giles der Tänzer passierte einen langen Durchgang, der weder Anfang noch Ende hatte. Zu beiden Seiten brannten Fackeln an den Wänden, die aber gegen die Dunkelheit kaum ankommen konnten. Er streifte durch die Flure von Burg Lancing, mit gezogenem Schwert und auf der Suche nach dem Werwolf. Dieses Untier, das seine Gestalt nach Belieben verändern konnte, war so schlau wie tödlich, und der Tänzer hatte lange Zeit gerätselt, hinter welchem der Gäste des Barons sich der Werwolf verbarg. Jetzt aber wusste er Bescheid. Die Bestie konnte nicht mehr weit vor ihm sein. Auf leisen Sohlen schlich er durch den Korridor und suchte mit kühlem, scharfem Blick nach Hinweisen auf sein Opfer. Es schien ihm, als sei er schon überaus lange auf der Jagd, aber er hatte Geduld. Er wusste, dass er den Werwolf irgendwann zur Strecke bringen und töten würde. Immer weiter folgte er dem Korridor, und es zeigte sich ein erster Zweifel auf seiner Stirn. Er hatte nicht für möglich gehalten, dass Burg Lancing derartig groß war. Er hätte doch mittlerweile irgendwo ankommen müssen. Und da war noch etwas, woran er sich erinnern sollte, was ihm aber nicht mehr einfiel. Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aufmerken. Er blieb jählings stehen und lauschte. Da war es wieder, das Geräusch: ein tiefes, kehliges Knurren, ganz in der Nähe. Der Tänzer schmunzelte. Das könnte interessant werden. Er hatte noch nie einen Werwolf getötet und hoffte, dass das Monstrum ihm einen guten Kampf liefern würde. Als Schwertmeister war er schon lange nicht mehr ernstlich gefordert gewesen. Ob Mensch oder Tier, Zauberer oder Gestaltwandler - er würde jeden Gegner niederzwingen. Vorsichtig schlich der Tänzer weiter voran und lauschte. Doch da gab es nur Stille und Dunkelheit. Dann aber, als er um eine Ecke bog, stand plötzlich der Werwolf vor ihm. Er war groß, überragte Giles um etliches und reichte mit seinem zotteligen Kopf fast bis zur Decke. Das dichte Fell war durchschwitzt und voller Blutflecken und stank so ranzig wie die Luft in einem verdreckten Metzgerladen. Gelb wie Urin waren die eng zusammenstehenden Augen, und die grinsenden Lefzen entblößten nadelspitze Zähne. Das Tier knurrte den Tänzer an, und aus dem Maul zog sich der Geifer in langen Fäden. Beide starrten einander lange Zeit an. Dann hob der Tänzer sein Schwert und lächelte. Heulend warf sich ihm der Werwolf entgegen und schnappte nach seinem Hals. Leichtfüßig wich der Tänzer zur Seite hin aus und rammte dem Tier das Schwert in den Leib. Wieder heulte es auf und wirbelte herum. Noch in der Bewegung verheilte die klaffende Wunde. Der Tänzer zog nun seinen silbernen Dolch aus dem Stiefelschaft, versenkte die Klinge zwischen den Rippen des Wesens und gab ihm eine Drehung aus dem Handgelenk mit. Wie mit menschlicher Stimme schrie es auf und sackte schlaff zu Boden. Das Blut, das es verströmte, war rot wie Menschenblut. Vorsichtig wich der Tänzer aus seiner Reichweite zurück und sah gelassen zu, wie der Werwolf röchelnd verendete. Vor seinen Augen nahm nun das Monster eine andere Gestalt an. Fell, Fang und Klauen lösten sich scheinbar in Nichts auf, und schließlich sah er Jessica Flint vor sich liegen - mit seinem Messer im Herzen. Constance, die Hexe, stand im dunklen Vorraum, durch den kalte Zugluft strömte. Vier Männer warfen je ein Seil mit Schlinge um einen der Deckenbalken. Dabei nahmen sie von der Hexe keinerlei Notiz, und obwohl ihre Münder zu schmunzeln schienen, wirkten ihre Blicke rätselnd und verwirrt. Derjenige, der als Erster fertig war, nahm einen Stuhl von der Seitenwand und stellte ihn unter die Schlinge, die er geknüpft hatte. Dann bestieg er den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und wartete darauf, dass die anderen es ihm gleichtäten. Bald standen alle vier Männer auf den Stühlen. Sie zogen die Schlinge enger um den Hals und sprangen von den Stühlen, einer nach dem anderen und ohne sich ein letztes Mal angesehen zu haben. Reglos baumelten sie vom Deckenbalken herab und erstickten langsam. Constance ging im weiten Bogen um sie herum, als ein letztes Zucken durch deren Glieder ging, und eilte in den Korridor hinaus, der vom Vorraum wegführte. Ein Wachposten schlug mit dem Schwert auf einen Bettler ein, der auf allen vieren zu fliehen versuchte und eine lange Blutspur hinter sich herzog. Weder die Wache noch der Bettler beachteten Constance. Sie ging durch das Fort und traf überall auf ähnliche Szenen von Wahnsinn, Totschlag und groteskem Selbstmord. In einer Ecke hockte ein Mann, der sich immer wieder ein Messer in den Bauch rammte, bis ihm das Messer schließlich aus der Hand fiel. In einem Sitzbad ertränkte eine Mutter ihre zwei Kinder, legte sie dann beide in ihren Schoß und sang ein Wiegenlied. Zwei Männer duellierten sich mit Äxten und hieben aufeinander ein, ohne Anstalten zu ihrem eigenen Schutz zu machen. Sie teilten aus und steckten ein, doch keiner fiel. Blut spritzte und lief in großen Pfützen auf dem Boden zusammen. So war es überall im Fort: Männer, Frauen und Kinder nahmen ein schreckliches Ende, aus Gründen, die Constance nicht nachzuvollziehen vermochte. Allerdings schienen sie samt und sonders von Wahnsinn geschlagen zu sein. Es war sehr kalt im Fort, und Dunkelheit ballte sich um weichende Reste von Licht. Im Hintergrund waren unablässig dumpfe Schläge zu hören, wie von einer großen Basstrommel. Die Schallquelle ließ sich nicht genau bestimmen, und es dauerte eine Weile, bis Constance gewahrte, dass da in unermesslich weiter Ferne ein riesiges Herz pochte. Schließlich erreichte sie den Speisesaal, wo Hunderte von Männern, Frauen und Kindern saßen und aßen. Constance war auf der Hut, als sie den Saal betrat. Auch hier blieb sie von allen unbeachtet. Sie trat auf den nächsten Tisch zu und wandte sich angewidert ab, als sie sah, woraus die Mahlzeit bestand. Das Fleisch auf den Tellern war roh und blutig und voller Maden, die sich kriechend auf dem Tisch ausbreiteten. Über die Tellerränder labberten zuckend violette Innereien. Manche Schalen lagen voller Vogelköpfe mit lebendig blinkenden Augen. Die Hexe schaute weg und ihr Blick fiel auf den Mann, der am Kopf des Tisches saß - offenbar tot. Sein Hals war zweimal aufgeschlitzt, das Hemd mit Blut durchtränkt. Er lächelte freundlich und bot Constance aus einem Glas zu trinken an, das randvoll mit Blut gefüllt war. Constance schreckte zurück, als sie bemerkte, dass er sie sehen konnte. Und nun wandte sich ihr ein Gesicht nach dem anderen zu. Von denen, die an den Tischen saßen, lebte keiner mehr. Manche waren erstochen, manche verbrannt worden. Einige hockten da mit gebrochenem Hals, auf dem noch das Würgemal der Schlinge zu sehen war. Constance schüttelte sich vor Entsetzen und presste die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Plötzlich hoben die Toten, einer nach dem anderen, die Arme und zeigten mit ausgestrecktem Finger auf eine Stelle hinter ihr. Zögernd, widerwillig drehte sich Constance um. Sie ahnte, dass sie das, worauf man sie aufmerksam machte, eigentlich gar nicht sehen wollte. Trotzdem drehte sie sich um und ihr Aufschrei erstickte im Hals, als sie MacNeil, Flint und den Tänzer an der Wand hängen sah, festgenagelt mit Dutzenden langer Messer. Die Füße baumelten eine Handbreit über dem Boden, und nach der Blutmenge zu urteilen, die sie vergossen hatten, waren sie schon lange Zeit tot. Constance wimmerte leise. Im Rücken hörte sie schlurfende Geräusche und sah, als sie sich umdrehte, die Toten, mit langen Messern bewaffnet, langsam näher kommen. Constance wich zurück und prallte vor die geschlossene Tür. Hektisch zerrte sie an der Klinke, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie wirbelte herum, starrte auf die Messerspitzen, die schon sehr nahe waren, und schrie auf. Der Schrei riss MacNeil aus tiefem Schlaf. Noch hallte es heulend Dämonen, Dämonen! durch seinen Kopf, aber schon saß er aufrecht auf der Matte und schwang sein Schwert, bis ihm bewusst wurde, wo er war. Schnaubend ließ er Luft ab. Der Traum fiel von ihm ab. Sein Gesicht war schweißgebadet; er wischte es mit einem Deckenzipfel trocken. Die Hände zitterten. Er holte tief Luft und hielt sie einen Augenblick lang an. Doch es half nicht viel. Er schaute sich um. Constance richtete sich neben ihm auf. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte. Das Echo ihres Schreis verhallte soeben. Der Tänzer stand auf den Beinen und starrte suchend ins Dunkel. Auch Flint hatte ihren Säbel gezückt; ihr Blick war wie umwölkt. MacNeil beruhigte sich. Alles in Ordnung. Es war nur ein Traum. Keine Gefahr. Der letzte Rest an Panik versiegte, und er war wieder ganz er selbst. Er legte Constance eine tröstende Hand auf die Schulter, worauf sie vor Schreck zusammenzuckte. Als sie aber aufblickte und sah, wer sie da berührt hatte, atmete sie erleichtert auf. Der Albtraum stand ihr noch im Gesicht geschrieben, und es rührte MacNeil seltsam an zu sehen, wie verletzlich sie war. Gern hätte er sie in die Arme genommen und versprochen, sie vor der "Welt in Schutz zu nehmen. Noch während er diesem Gedanken nachhing, entspannte sich ihre Miene. Constance hatte sich wieder unter Kontrolle. Sie schniefte noch einmal und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ich hatte einen schrecklichen Traum. Einen Albtraum.« »Das dachte ich mir«, antwortete MacNeil. »Geht's wieder?« »Ja. Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.« »Dafür danke ich dir«, sagte MacNeil. »Ich habe selbst ziemlich schlecht geträumt und hätte wahrscheinlich auch bald zu schreien angefangen.« »Ihr habt schlecht geträumt?«, fragte der Tänzer stirnrunzelnd. »Ja«, antwortete MacNeil. »Na und? Das kommt immer wieder mal vor.« »Mir ist es nicht besser ergangen«, sagte der Tänzer. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass gleich drei von uns zur selben Zeit einen Albtraum haben?« »Alle vier«, schaltete sich Flint ein. MacNeil sah sie verwundert an. »Du bist während der Wache eingeschlafen?« Flint blickte zerknirscht drein und nickte. »Ich bin für einen Moment weggedöst.« »Das sieht dir gar nicht ähnlich«, sagte der Tänzer. »In der Tat«, meinte auch MacNeil. Constance musterte Flint und wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines anderen. Stattdessen fragte sie in die Runde: »Wovon habt ihr geträumt?« Flint krauste die Stirn. »Davon, wie ich einmal gegen einen Untoten gekämpft habe. Im Traum war ich ihm am Ende unterlegen, obwohl ich ihn in Wirklichkeit besiegt habe.« »Ich träumte von einem Werwolf, den ich Vorjahren tötete«, berichtete der Tänzer. »Im Traum aber war alles ganz anders.« Constance richtete ihren Blick auf MacNeil. »Und was ist mit dir, Duncan? Was hast du geträumt?« »Das ist doch egal«, antwortete er. »Es war nur ein Albtraum.« »Vielleicht ist es wichtig. Erzähl.« Nein, Constance. Das kann ich nicht erzählen, weder dir noch sonst irgendwem. Ich kann keinem erzählen, wie ich einmal fast Hals über Kopf davongelaufen wäre. »Im Traum wähnte ich mich wieder in die lange Nacht zurückversetzt«, sagte er schließlich, »und kämpfte gegen Dämonen.« Constance krauste die Stirn. »Dämonen…« »Aber das hat alles nichts zu bedeuten«, fiel ihr MacNeil ins Wort. »Außerdem haben wir schon darüber geredet. Ihr erinnert euch?« »Ja«, sagte Constance. Sie dachte eine Weile lang nach und betrachtete MacNeil mit ernster Miene. »Mein Traum war anders. Ihr habt alle von längst vergangenen Dingen geträumt. Was mir im Traum erschien, waren Vorgänge hier im Fort.« »Hattest du eine Vision?«, fragte Flint. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Constance erschauderte plötzlich. »Ich sah hier Leute durchdrehen und mordend übereinander herfallen.« Für eine Weile blieb es still. »Das könnte eine Erklärung sein«, sagte MacNeil. »Aber wenn das tatsächlich passiert ist, wo sind all die Leichen.« »Jedenfalls sind sie nicht weggeschafft worden«, antwortete Flint. »Denn dann hätten wir die eine oder andere Spur entdeckt.« »Ja, ich glaube, dass hier tatsächlich alles so passiert ist, wie ich es geträumt habe«, sagte Constance. »Bist du sicher?«, fragte MacNeil. »Natürlich. Ich bin eine Hexe. Hier im Fort steckt eine unsichtbare Macht, die uns mit Albträumen gequält hat. Sie will uns testen und unsere Schwachstellen aufdecken. Im Unterschied zu euch habe ich einen Teil der Wahrheit erkannt.« MacNeil wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich vermute, du deutest da zu viel hinein, Constance. Kann sein, dass uns die Träume geschickt worden sind. Aber es sind eben nur Träume, nicht mehr. Alles andere ist Spekulation. Wir sind durch alle Räume gegangen, haben alle Winkel in diesem Fort durchsucht, aber außer uns ist niemand hier.« »Nicht umdrehen«, flüsterte der Tänzer plötzlich. »Was du da sagst, trifft nicht mehr zu. Wir werden von der Tür aus beobachtet.« In der Stille der Nacht trat hinter den Bäumen am Waldrand eine einsame Gestalt hervor und eilte über die Lichtung auf das Fort zu. Der Mond schien taghell, und da war kein Schatten, in dem Vogelscheuchen-Jack Deckung gefunden hätte. Mit gesenktem Kopf und wild rudernden Armen rannte er entschlossen drauflos. Wenn es auf den Wehrgängen der Festung noch Wachposten gegeben hätte, wäre er nicht weit gekommen. Bei diesem Licht war er kaum zu übersehen. Aber er hatte fast eine geschlagene Stunde darauf gewartet, dass sich eine Wolke über den Mond schöbe, was aber nicht eintraf, sodass er sich am Ende genötigt sah, sein Glück zu versuchen und zu laufen. Die Chancen, unentdeckt zu bleiben, standen gut, weil anscheinend nur ganz wenige Männer Wache schoben. Seine Nerven drohten in Erwartung herbeischwirrender Pfeile zu zerreißen, die er früh genug zu sehen hoffte, um ihnen ausweichen zu können. Endlich waren die Mauern des Forts erreicht. In deren Schatten geduckt, hielt er inne, bis er wieder zu Luft kam. Dunkel und still breitete sich die Nacht um ihn aus. Vogelscheuchen-Jack war ein groß gewachsener Mann Mitte zwanzig. Eine dichte, dunkle Mähne, die seit Jahren nicht gebürstet war, fiel ihm bis auf die Schultern herab. Ein um die Stirn geschlungener schmaler Stoffstreifen hinderte die Strähnen daran, ihm ins Gesicht und über die dunklen, stets hellwachen Augen zu fallen. Er trug ein Sammelsurium aus grünen und braunen Lumpen, die man kaum als Kleider bezeichnen konnte und die im Wesentlichen von schierem Dreck zusammengehalten schienen. Sie stanken ziemlich streng, waren aber wegen ihrer Farben im Wald eine geradezu vollendete Tarnung. Wenn er nicht gesehen sein wollte, sah ihn auch niemand. Als Wegelagerer, der er gewesen war, hatte Jack legendären Ruhm erworben. Er hatte fast neun Jahre lang ganz allein im Wald von dem gelebt, was er dank seiner Geschicklichkeit und Schläue erbeuten konnte. Es ging ihm so gut, dass die Welt der Menschen für ihn immer weniger anziehend wurde. Trotzdem vergaß er seine menschliche Herkunft nie. Im Gegenteil, die harsche Natur lehrte ihn Mitleid und Erbarmen erst wirklich schätzen. Nie beraubte er Leute, die selbst bedürftig waren. Er half verarmten Familien, die sich nicht selbst unterhalten konnten, indem er für sie wilderte. Steuereintreiber kamen nicht an ihm vorbei, ohne gründlich geschröpft zu werden. Wer sich aber verirrt hatte oder in Not geraten war, konnte sich seiner Unterstützung sicher sein. Offiziell galt er als Gesetzesbrecher, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war, doch es gab niemanden, der ihn ans Messer geliefert hätte. Vogelscheuchen-Jack war ein Teil des Waldes, was allgemein so hingenommen wurde. Zu anderen Menschen hielt er Abstand, denn er war von Natur aus scheu und fühlte sich nicht wohl in Gesellschaft. Manche behaupteten, dass er zum Volk der Zwerge gehöre, ein Kobold sei oder gar eine Kreuzung aus Mensch und Dämon, doch dem war nicht so. Er war ein einfacher Mann, der den Wald über alles in der Welt liebte. Vogelscheuchen-Jack. Er stand auf und nahm das Seil zur Hand, das er um seine Schulter geschlungen hatte. Er prüfte den Knoten, mit dem er den Draggen befestigt hatte, und nahm mit Blick auf die hohen Zinnen Maß. Um ein Gefühl für das Gewicht des kleinen Ankers zu bekommen, ließ er ihn eine Weile hin und her pendeln; dann holte er schwungvoll aus und schleuderte ihn in den Nachthimmel hinaus. Im Mondlicht glitzernd, flog der Draggen in hohem Bogen über die Brustwehr und verschwand dahinter. Jack zog nun an dem Seil, bis sich der Draggen auf der anderen Seite fest verhakt hatte, und kletterte wendig und flink die Mauer empor, an der er ausreichend viele Trittstellen für die Fußspitzen fand. Bald hatte er die Zinnen und den Wehrgang dahinter erreicht. Kauernd verharrte er einen Augenblick lang auf der Stelle, doch da war offenbar keiner, der ihn bemerkt hätte. Lautlos schlich er nach unten in den Hof und zu den Ställen. Die Anzahl der dort untergebrachten Pferde würde ihm verraten, wie viele Gardisten im Fort stationiert waren. Schon auf halbem Weg spürte er, dass hier etwas schrecklich im Argen lag. Er blieb vor dem um einen Spaltbreit geöffneten Stalltor stehen und schnüffelte. Schwer hing der kupferne Geruch von Blut in der Luft. Vorsichtig stieß er das Tor auf und schlich langsam nach innen, setzte einen Schritt vor den anderen. Dann fuhr er vor Schreck zusammen, als er die Verwüstungen und all die dunklen Flecken entdeckte - das viele Blut, wie er sofort erkannte. Jack krauste die Stirn. Allem Anschein nach waren diese längst getrockneten Blutflecken schon einige Wochen alt, trotzdem war ihr Gestank kaum auszuhalten. Er suchte auf dem Boden nach irgendwelchen Hinweisen und kam zu dem Ergebnis, dass vor kurzem zwei Personen hier gewesen sein muss-ten. Doch es gab keine Spur, die erklärt hätte, was den Pferden widerfahren war. Mit düsterer Miene ging Jack nach draußen. Die Luft im Hof war frisch und klar. Er atmete tief ein und aus, um den bestialischen Blutgestank loszuwerden. Jack sah sich um. Er ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, weshalb das Fort verlassen war, und zwar schon seit langem, wie es schien. Genau das verunsicherte ihn. Es war auf natürliche Weise nicht zu erklären und reizte seine Nerven wie jenes Donnergrollen, das, weil allzu weit entfernt, noch gar nicht zu hören war. Jack verließ sich auf seine Instinkte nicht weniger als auf seinen Verstand. Mit argwöhnischem Blick folgte er den Spuren der Gardisten, die über den Hof auf das Hauptportal zuführten. Im Vorraum standen vier Pferde, dicht an dicht und offenbar schlafend. Eingedenk des Zustandes, in dem sich die Ställe befanden, nickte er verständnisvoll mit dem Kopf. Weniger leicht zu verstehen waren dagegen die vier Schlingen, die von der Decke hingen. Jack kniff die Brauen zusammen. Das ungute Gefühl, das sich ihm schon im Hof aufgedrängt hatte, war in diesem Vorraum noch stärker, zumal es hier wieder schrecklich nach Blut stank. Und es war kalt, unnatürlich kalt. Er spürte in den Knochen, dass sich hier Entsetzliches zugetragen hatte. Er folgte den Spuren der Gardisten, die auf dem staubigen Dielenboden gut auszumachen waren. Obwohl er leise an ihnen vorbeischlich, schienen die Pferde in ihrem Schlaf gestört. Vielleicht durch schlechte Träume. Zögernd betrat Jack den Korridor. Die Dunkelheit machte ihm nichts aus, aber es behagte ihm nicht, von allen Seiten ummauert zu sein. Er fühlte sich wie in einer Falle und hatte die Vorstellung, die Wände würden immer enger zusammenrücken. Um den Gedanken zu verscheuchen, schüttelte er sich wie ein Hund und ging entschlossen weiter. Er folgte den Spuren durch schmale Korridore und gelangte schließlich in den Speisesaal. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, spähte in den hell erleuchteten Raum und hielt die Luft an. Da hockte eine Frau, die über drei schlafende Gefährten wachte. Als er sah, dass auch sie eingeschlafen war, entspannte er sich ein wenig. An ihrem Äußeren erkannte Jack die vier Fremden als Ranger — und er war enttäuscht, weil er Ranger immer für sehr viel geschickter gehalten hatte. Seine Furchen auf der Stirn wurden noch tiefer, als ihm auffiel, dass sie im Schlaf mit Armen und Beinen zuckten und vor sich hin murmelten. Offenbar träumten sie schlecht, was er verstehen konnte. Es gruselte ihn selbst hier an diesem Ort. Plötzlich fuhr einer der Ranger schreiend in die Höhe und weckte die anderen. Aus Angst, entdeckt zu werden, wagte es Jack nicht sich zu rühren. Still und reglos stand er hinter der Tür und hörte zu, wie sie einander ihre Träume erzählten. Einer der vier bemerkte ihn dann doch. Die dunkle Gestalt war verschwunden, ehe MacNeil die Tür erreichte. Mit gezücktem Schwert rannte er ihr im Korridor nach. Auf den ersten Blick hatte sie eine verstörende Ähnlichkeit mit einem der Dämonen aus seinem Traum. Doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah MacNeil, dass er einem Mann in Lumpen hinterherjagte. Da regte sich was in seiner Erinnerung. Vogelscheuchen-Jack? MacNeil schmunzelte in sich hinein. Er hatte von diesem Spitzbuben gehört, auch davon, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Er legte noch einen Schritt zu und rannte, so schnell es seine müden Beine erlaubten. Doch der andere lief wie ein aufgeschreckter Hirsch und war MacNeil bald aus den Augen entschwunden. Trotzdem rannte er weiter, ohne auf seine Gefährten zu achten, die in einigem Abstand folgten. Die Jagd dauerte an und führte durch etliche Räume und Flure, die im Dunklen kaum voneinander zu unterscheiden waren. Der Verfolgte hatte schon den Hof erreicht, als MacNeil in den Vorraum gelaufen kam, wo er kurz anhalten musste, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen. Als er endlich in den Hof hinauslief, war Vogelscheuchen-Jack nirgends zu sehen. Wenig später waren auch die anderen drei zur Stelle. Gemeinsam standen sie vor dem Portal und starrten in den dunklen Hof hinaus. »Wen suchen wir eigentlich, wenn ich fragen darf?«, keuchte Constance. »Einen Gesetzlosen«, antwortete MacNeil. »Er hat uns vor der Tür zum Speiseraum aufgelauert.« »Wie lange?«, wollte Flint wissen. »Allzu lange«, gab der Tänzer zurück. »Wer er auch ist, er ist sehr gut.« »Vogelscheuchen-Jack, wenn ich mich nicht irre«, erklärte MacNeil. Der Tänzer hob eine Braue. »Mir war gar nicht bewusst, dass wir uns in seinem Revier befinden. Was will er wohl von uns?« »Wichtiger wäre zu wissen, wie er hier hereinkommen konnte und wo er jetzt hin ist.« MacNeil befingerte unruhig das Heft seines Schwertes. »Über den Haupteingang kann er nicht gekommen sein. Der ist immer noch verriegelt und verrammelt. Davon habe ich mich überzeugt, bevor wir schlafen gingen.« »Wahrscheinlich ist er über die Außenmauer geklettert«, sagte Flint. »Vielleicht steht er jetzt irgendwo da oben auf dem Wehrgang.« Sie alle blickten hoch zu den Zinnen, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. »Wenn er es dort hinauf geschafft hat, ist er längst über alle Berge«, knurrte MacNeil. Nach kurzem Zögern rammte er sein Schwert in die Scheide. Flint und der Tänzer sahen einander an und steckten dann ihre Schwerter ebenfalls weg. An Constance gewandt, sagte MacNeil: »Kannst du deinen magischen Blick auf diesen Kerl richten?« Die Hexe schüttelte den Kopf. »Irgendetwas, das hier im Fort steckt, verschleiert mir den Blick. Draußen im Wald könnte ich ihn vielleicht sehen.« MacNeil schüttelte den Kopf. »Im Dunklen werden wir die Vogelscheuche nie erwischen.« Wieder schaute er zu den Zinnen auf. »Wenn er es über die Mauer schafft, schaffen's andere auch. Wir müssen noch mehr auf der Hut sein.« »Ich verstehe das nicht. Was kann ein kleiner Ganove wie Vogelscheuchen-Jack hier gewollt haben?«, fragte Constance. »Wonach könnte er gesucht haben?« »Das frage ich mich auch«, begann Flint. »Ein Fort liegt eigentlich nicht auf seiner Linie, wenn man glauben kann, was man so alles über ihn hört. Das ist nicht sein Stil. Oder gibt's hier etwas, das wir noch nicht kennen, Duncan? Etwas, über das wir noch nicht unterrichtet sind?« MacNeil schmunzelte. »Dir entgeht doch auch gar nichts, Jessica. Na schön, lasst uns zurück in den Speisesaal gehen, und ich erzähle euch die ganze Geschichte. Hier draußen will ich lieber nicht reden. Wer weiß, wer alles zuhört.« Zurück im Speisesaal rückte sich MacNeil einen Stuhl zurecht und forderte die anderen auf, sich zu setzen. Als alle Platz genommen hatten, beugte er sich vor. »Dass wir hier sind, hat mehrere Gründe«, sagte MacNeil langsam. »Zum einen sollen wir herausfinden, wo die hier im Fort verwahrten hunderttausend Golddukaten geblieben sind.« Er schaute in die Runde und grinste, als er die Verwunderung in den Gesichtern der anderen sah. »Hunderttausend Dukaten!«, staunte Flint. »Das ist ein dicker Batzen Gold.« »Allerdings«, sagte MacNeil. »Es ist der Sold aller im Grenzgebiet stationierten Soldaten. Eigentlich sollte das Geld hier nur eine Nacht lang deponiert sein, um dann aufgeteilt und weitergeleitet zu werden. Dummerweise sind ausgerechnet in der einen Nacht alle Kontakte des Forts zur Außenwelt abgerissen. Ihr könnt euch vorstellen, wie man bei Hofe darauf reagiert hat. Also, unser offizieller Auftrag besteht darin, festzustellen, was mit der Belegschaft des Forts passiert ist. Wir sollen aber auch das Gold aufzutreiben versuchen. Ihr dürft jetzt raten, welcher Teilauftrag Vorrang hat.« »Deshalb hast du also gleich nach unserer Ankunft darauf bestanden, alle Räume zu sehen«, sagte Flint. »Richtig.« Der Tänzer fragte: »Warum hat man uns nicht eingeweiht?« MacNeil zuckte mit den Achseln. »Man wollte, dass ich euch erst vor Ort Bescheid gebe. Was ich hiermit getan habe. Wenn Vogelscheuchen-Jack von dem Gold erfahren hat, arbeitet er mit Sicherheit nicht allein. Ohne Hilfe könnte er so viel Gold gar nicht wegschaffen.« »Vielleicht ist es längst weggeschafft«, meinte Flint. »Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein«, entgegnete MacNeil. »Alles deutet darauf hin, dass wir die Ersten sind, die dieses Fort betreten haben, seit hier… was auch immer passiert ist.« Constance krauste die Stirn. »Vogelscheuchen-Jack arbeitet für gewöhnlich allein. Und dass er an Gold interessiert wäre, hat man auch noch nicht gehört.« »An Gold ist doch jeder interessiert«, erwiderte der Tänzer. »Nicht Jack«, beharrte Constance. »Jack ist anders.« MacNeil sah die Hexe an. »Du kennst Vogelscheuchen-Jack?« »Ich bin ihm begegnet, ein Mal«, antwortete Constance. »Es ist schon ein paar Jahre her. Ich war hier ganz in der Nähe auf der Suche nach Alraune und habe mich verirrt. Jack stöberte mich auf und führte mich auf den Weg zurück. Er war sehr freundlich, sehr nett, dabei aber äußerst scheu. Wie auch immer, er hat mir auf Anhieb gefallen. Er hat ein schlichtes Gemüt und ist sehr zufrieden mit seinem Leben. Der Wald bietet ihm alles, was er braucht. Nun ja… zugegeben, käuflich ist jeder.« »Genau«, sagte MacNeil. »Und darum müssen wir das Gold sicherstellen oder zumindest herausfinden, was damit passiert ist, ehe Jack mit seinen Kumpanen zurückkommt. Womöglich hat er eine kleine Armee hinter sich, der er jetzt Meldung macht.« Der Tänzer blickte nachdenklich zur Decke auf. »Auch wenn es sich um eine sehr kleine Armee handeln würde, hätten wir wohl kaum eine Chance, das Fort zu verteidigen.« MacNeil zuckte mit den Schultern. »Wir müssten sie nur ein paar Tage lang von dem Gold abhalten. Dann wird unsere Verstärkung hier sein. Aber dafür müssen wir das verdammte Gold erst einmal finden.« »Also gut«, sagte Flint. »Was machen wir jetzt? Wir haben uns schon überall umgesehen.« »Ja, aber offenbar nicht gründlich genug«, erklärte MacNeil. Also müssen wir noch einmal jeden Raum, jeden Flur und jede Abstellkammer durchsuchen, und zwar so lange, bis wir etwas finden.« »Jetzt?«, fragte Constance. »Es ist doch noch Nacht.« MacNeil grinste. »Macht dir immer noch dein Traum zu schaffen, Constance? Fürchtest du, es könnten dich aus dunklen Ecken böse Dämonen anspringen?« Constance hielt seinem Blick stand. »Du kannst einen manchmal ziemlich ärgern, Duncan. In diesem Fort gibt es etwas, das andere dermaßen um den Verstand gebracht hat, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben. Es treibt immer noch sein Unwesen und ist, wie alles Böse, besonders mächtig während der Nachtstunden.« »Dafür haben wir keinen konkreten Beweis, Constance.« »Mein magischer Blick…« »Ist verschleiert. Das hast du schon gesagt.« »Salamander hättest du geglaubt, oder?« Für eine Weile herrschte beklommene Stille. »Je eher wir mit der Suche beginnen, desto früher sind wir damit fertig«, stellte MacNeil leise fest. »Wenn wir uns aufteilen, geht's noch schneller. Flint, du und der Tänzer, ihr fangt im Eingangsbereich an. Seht euch dort gründlich um, und wenn ihr alles auf den Kopf stellen müsst. Constance und ich werden hier anfangen und uns dann Raum für Raum auf euch zubewegen. Irgendwo in der Mitte werden wir dann aufeinander treffen.« »Das wird dauern«, sagte der Tänzer. »Machen wir uns also an die Arbeit«, drängte MacNeil. Wölfe im Wald Lautlos wie ein Gespenst bewegte sich Vogelscheuchen-Jack durch den Wald, auf Pfaden, die nur er sehen konnte. Er war Teil des Waldes und kannte sich darin aus wie in seiner Hosentasche. Schlafenden Riesen gleich ragten die hohen Bäume auf. Ein böiger Wind rüttelte an ihren knorrigen Ästen. Vereinzelt strahlte fahles Mondlicht durchs Laubdach und bildete am Boden schimmernde Pfützen. Plötzlich blieb Jack stehen, tauchte in den Schatten ab und rührte sich nicht. Irgendetwas hier war ihm nicht geheuer. Schnuppernd hielt er die Nase in den Wind, nahm aber nur vertraute Gerüche wahr: den scharfen Duft von Borke und Blättern und das volle Aroma des Waldbodens. Jack konzentrierte sich auf sein Gespür. Es zog ein Gewitter auf, eines, das besonders heftig zu werden versprach. Doch das hatte er schon den Wolken am Nachmittag angesehen und der schwülen Luft angemerkt. Was ihn da irritierte, befand sich hier im Wald… etwas Altes und Schreckliches, erwachend aus langem Schlaf__ Damals wohnten Riesen in der Erde. Etwas Böses trieb sich um. Die Vögel und Tiere wussten Bescheid. Gewöhnlich war auch die Nacht voll von kleinen hektischen Lauten, doch heute herrschte tiefes Schweigen, und alle Tiere hockten in ihren Nestern und Höhlen und warteten darauf, dass das Böse vorbeizöge. Jack legte die Stirn in Falten. Wie war es möglich, dass im Wald ein böses Wesen erwachte und er erst jetzt Kenntnis davon nahm? Dann glaubte er die Antwort gefunden zu haben und grinste vor sich hin. Er war in letzter Zeit so sehr mit seinen neuen Kumpanen beschäftigt gewesen, dass er für alles nur wenig Sinn gehabt hatte. Er hätte es kaum gemerkt, wäre der halbe Wald niedergebrannt. Jack seufzte reumütig. Über die jüngsten Entwicklungen war er beileibe nicht glücklich, aber daran konnte er im Augenblick nichts ändern. Ihm blieb nichts anders übrig, als abzuwarten und die Augen offen zu halten. Seine Augen… oder die eines anderen. Grinsend stand er auf, schloss die Augen, ließ seinen Geist zwischen den hohen Bäumen ausgreifen und gab einen tonlosen Ruf von sich. Er schlug die Augen wieder auf und wartete geduldig, bis wenige Minuten später ein heller Schatten durch die Nacht herbeischwebte. Jack streckte seinen Arm aus, auf dem sich kurz darauf eine Eule niederließ. Die Krallen drangen durch seine Lumpen, nicht aber in die Haut. Die Eule schaute ihn mit sehr ernster Miene an und Jack begegnete ihrem Blick mit seinen großen goldenen Augen. Die beiden hatten sich schnell verständigt. Auf weit ausgestreckten Schwingen flog er durch den Wald. Die Nacht war seltsam still, und im Finstern pochte dumpf das Böse wie ein riesiges Herz. Darauf nahm er Kurs und flog zwischen schwankenden Bäumen neugierig näher. Dann schwebte er auf die Lichtung hinaus. Mondlicht blitzte um ihn auf und er verharrte flatternd in der Luft. Inmitten der Lichtung erhob sich ein Berg aus Stein und Holz die Grenzfeste. Normalerweise wäre er an ihr als Rastplatz oder auch Brutstätte durchaus interessiert gewesen. Nicht so jetzt. Denn dort lauerte das Böse. In der Dunkelheit öffnete sich kriechend langsam ein riesiges Auge. Die Eule machte kehrt, floh zurück in den Schutz der hohen Bäume, und Jack war wieder ganz er selbst, der Kontakt unterbrochen. Als er den Arm hob, flatterte der Vogel auf und verschwand im Dunklen. Jack setzte eine nachdenkliche Miene auf. Als er sich selbst im Fort aufgehalten hatte, waren seine Sinne auf Grund der Nähe zur Menschenwelt wie betäubt gewesen; jetzt aber, da er sich hier draußen im Wald aufhielt, schrien seine Instinkte geradezu auf bei dem Gedanken, zum Fort zurückzukehren. Leider blieb ihm keine andere Wahl. Schulter zuckend setzte sich Jack in Bewegung und beschleunigte in einen Laufschritt, den er, wenn es drauf ankam, stundenlang beibehalten konnte. Er war schon spät dran, und Hammer wartete nicht gern. Jack schmunzelte. Es gab vieles, das Hammer an ihm, Jack, nicht leiden konnte. Er dachte über Jonathon Hammer nach - und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Der Kerl war kalt wie eine Hundeschnauze, aber immerhin hatte er ihm das Leben gerettet, und Vogelscheuchen-Jack blieb anderen nichts schuldig. Es war sein Fehler gewesen, dass er sich nicht besser vorgesehen hatte und in eine simple Falle getappt war, eine mit Reisig abgedeckte Fallgrube. Die Gardisten hätten bestimmt kurzen Prozess mit ihm gemacht und seinen aufgespießten Kopf auf dem nächsten Markplatz als abschreckendes Beispiel zur Schau gestellt, wäre Hammer nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen. Jack lief lautlos und wendig zwischen den dicht bei dicht stehenden Bäumen einher, von denen noch infolge des Kriegs viele tot waren und vor sich hin moderten. Jack empfand diese in den Wald geschlagene Wunde, als trüge er sie am eigenen Körper. Zu anderen Zeiten wäre er vor jedem einzelnen Baum stehen geblieben, um nach Anzeichen neuen Lebens Ausschau zu halten, doch dazu hatte er in dieser Nacht keine Zeit. Vor ihm flackerte aus der Dunkelheit ein Lichtschein auf, worauf er in einen langsameren Schritt zurückfiel. Leise pirschte er sich bis an den Rand einer Lichtung vor und ging in Kauer-Stellung. Er sah Hammer vor einem hoch auflodernden Lagerfeuer ungeduldig auf und ab schreiten und fragte sich, wie er ihm am besten beibringen sollte, was er über das Fort in Erfahrung gebracht hatte. Jonathon Hammer war ein großer, kräftiger Mann mit beeindruckend breiten Schultern. Er war Ende dreißig, was man ihm auch ansah. Das dunkle Haar trug er kurz geschnitten und nach vorn gebürstet, wo es schon recht schütter geworden war. Obwohl sein Lächeln täuschend warmherzig wirkte, konnte seine Miene nicht verhehlen, dass er in Wahrheit kalt und rachsüchtig war. Über einem weißen Leinenhemd trug er eine einfache Lederweste, und die Beine seiner schwarzen Hose waren in die Stulpen der dreckverschmierten Stiefel gestopft. Dem Äußeren nach hätte er alles Mögliche sein können, sowohl Händler als auch Gerichtsvollzieher. Sein langes Schwert aber, das er geschultert hatte und das ihm quer über den Rücken hing, wies ihn eindeutig als den Krieger aus, der er war. Obwohl Hammer von stattlicher Größe war, ragte der Knauf des Schwertes über den Kopf hinaus, während die Spitze fast den Boden streifte. Ein längeres Schwert hatte Jack nie zuvor gesehen, und der Breite der Scheide nach zu urteilen schien es auch überaus gewichtig zu sein. Hammer aber bewegte sich so unbeschwert damit, als wäre es gar nicht da. An der Hüfte trug er noch ein zweites Schwert, das er auch hin und wieder zur Hand nahm. Das Langschwert auf dem Rücken aber hatte ihn Jack noch nie ziehen sehen. Hammer nahm es selbst dann nicht von der Schulter, wenn er sich schlafen legte. Hammer hatte schon als Söldner gedient, als Leibwache eines Barons und bei der königlichen Garde, war aber immer schon ehrgeiziger gewesen, als ihm gut tat. Wo er sich auch befand, früher oder später lief er aus dem Ruder, trank übermäßig viel, verführte andere zum Spiel oder schlug sich mit Offizieren, die er nicht leiden konnte. Und dann wurde er wieder auf die Straße gesetzt. Während einer seiner Reisen hatte er sein Langschwert gefunden. Unter welchen Umständen - das verriet er nie. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er zu einer Eskorte gehört, die eine Wagenladung voller Gold zur Grenzfeste begleitet hatte. Seitdem dachte er an nichts anderes mehr. Mit einer solchen Menge Gold würde er ein eigenes Söldnerheer ausheben und das Hagreich im Sturm erobern können. König Jonathon der Erste… Jack grinste. Hammer hatte immer schon hoch hinaus gewollt. Kaum war das Gold im Fort abgeliefert und sicher deponiert, hatte er sich aus dem Staub gemacht, lebte seitdem im Unterholz und strickte an einem Plan, wie er sich das Gold beschaffen konnte. Doch in jener Nacht schien im Fort etwas vorgefallen zu sein, das er nicht vorhergesehen hatte. Hammer hatte am Waldrand gestanden und grauenvolle Schreie gehört, aber nicht den Mumm gehabt, auf eigene Faust nachzusehen, was da passiert war. Während der nächsten Tage hatte er lediglich Ausschau gehalten, doch im Fort war kein einziges Lebenszeichen zu erkennen gewesen. Es dauerte eine Weile, bis er Wilde, den Bogenschützen, ausfindig gemacht hatte und Vogelscheuchen-Jack für sich gewinnen konnte. Doch diese Zeit war gut genutzt, wie er fand. Mit diesen beiden Burschen an seiner Seite würde er bestimmt Erfolg haben. Dumm nur, dass die Ranger eher im Fort waren. Jack hockte im Schatten am Rande der Lichtung, auf der Hammer und Wilde lagerten. Jede Verzögerung war gefährlich. Je später er sich zurückmeldete, desto mehr würde Hammer ihn dafür büßen lassen. Dennoch zögerte Jack. Er brauchte Zeit, um über die beiden Kerle nachzudenken, denen er sich als Verbündeter angeschlossen hatte. Hammer, ihm schuldete er etwas. Aber Wilde… Edmond Wilde saß auf der anderen Seite des Feuers und nagte gierig an einem Hühnerknochen. Er war groß und hager, ging auf die dreißig zu und trug schäbige schwarze Klamotten. In dem schmalen Gesicht standen die dunklen Augen eng beieinander, und im Dunklen sah er aus wie ein unglücklicher Geier. Die schwarzen Haare waren lang und fettig. Ständig fielen ihm einzelne Strähnen ins Gesicht, die er dann mit einem hektischen Kopfschlenker zurückwarf. Insgesamt bewegte er sich verstohlen und unbeholfen, als fürchtete er, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er aber einen Bogen oder ein Schwert in der Hand hielt, schien er wie ausgewechselt. Dann richtete er sich kerzengerade auf, seine Augen glänzten hellwach, und er strahlte etwas aus, das Angst machte. Als Bogenschütze war Wilde fast so gut, wie er sich selbst sah, das heißt, er war meisterhaft. Der Bogen lag neben ihm auf dem Boden, entspannt, um die Sehne zu schonen. Es war ein Langbogen von über zwei Metern Länge. Jack hatte ihn einmal heimlich zu spannen versucht und all seine Kraft aufbringen müssen, um die Wurfarme zu biegen. Da Wilde nicht gerade athletisch war, vermutete Jack, dass es einen besonderen Trick geben musste, mit dem sich der Bogen leichter spannen ließ. Er hätte Wilde gern danach gefragt, doch Wilde war jemand, den man nur in Ausnahmefällen etwas fragte. Als Hammer ihn aufgegriffen hatte, war er auf der Flucht gewesen, hatte aber nie erklärt, wovor. In Anbetracht seiner Vorlieben und Einstellungen vermutete Jack, dass er wahrscheinlich wegen Mordes oder Vergewaltigung gesucht worden war. Oder sowohl als auch. Der Bogenschütze verlor kein einziges Wort über seine Herkunft, aber seine Kleider, obwohl abgetragen und dreckig, schienen ursprünglich von sehr guter Qualität gewesen zu sein. Seine Sprache war durchweg grob und vulgär, und doch ließ er manchmal einen gehobenen Ton anklingen. Was allerdings kaum etwas besagte. Im Hinblick auf Wilde wusste Jack nur eines: dass er ein Schwein war, durch und durch. Solange sich Hammer in Hörweite aufhielt, sang Wilde das Hohe Lied der Treue auf ihn. Seine Loyalität aber glich eher der eines hungrigen Wiesels. Hammer führte ihn an einer Kandare aus Schrecken und Brutalität, was Wilde für selbstverständlich zu halten schien. Jack grinste grimmig. Auch er war der Meinung, dass Wilde keinen Fehler hatte, der sich nicht mit einem Galgenstrick aus der Welt bringen ließe. Er war ein mieser, heuchlerischer, hinterhältiger Hund, ekelhaft, wenn betrunken, unerträglich, wenn nüchtern. Er würde einem Bettler die Pfennige aus dem Hut nehmen und sich dann auch noch darüber beklagen, dass es nur Pfennige seien. Wie auch immer, er war ein meisterhafter Bogenschütze, der Hammer dienlich sein konnte, und darum blieb er. Jack seufzte wieder. Dass er sich ausgerechnet diesem Jonathon Hammer gegenüber verpflichtet fühlen musste! Achselzuckend richtete er sich auf und tappte leise auf die Lichtung hinaus. Wilde zuckte aufgeschreckt zusammen, sprang auf und griff nach seinem Schwert. Als er sah, wer da kam, setzte er sich mit verärgerter Miene wieder ans Feuer. »Der edle Wilde ist zurück«, sagte er zu Hammer. Hammer achtete nicht auf dessen Geknurre. Er war völlig ungerührt geblieben von Jacks dramatischem Auftritt und bedachte ihn nun mit kühlem Blick. »Du hast dir viel Zeit gelassen«, sagte er. »Es ist ein großes Fort«, antwortete Jack. »Ich habe überall nachgesehen, aber nirgends eine Spur von dem Gold entdeckt. Da gibt es zwar keine einzige Leiche mehr, dafür aber jede Menge Blut. Ich hab mir auch ein Bild von den Rangern machen können, die sich zurzeit dort aufhalten. Sie haben mich dann entdeckt, und ich musste machen, dass ich fortkam.« Hammer krauste die Stirn. »Haben sie dich erkannt?« »Ich weiß nicht. Vielleicht.« »Das war unachtsam von dir«, sagte Hammer. »Sehr unachtsam.« Er stand gemächlich auf und schlug mit dem Handrücken so wuchtig zu, dass Jack auf dem Boden landete. Er hatte den Schlag zwar kommen sehen, aber nicht mehr rechtzeitig in Deckung gehen können. Hammer war für seine Größe ausgesprochen schnell. Jack wich kriechend ein Stück zurück, ohne Hammer aus den Augen zu lassen. Er spürte, dass ihm aus dem linken Nasenloch Blut tropfte, wischte mit der Hand darüber und sah auf den Knöcheln roten Schmier. Wilde kicherte schadenfroh. Jack nahm keine Notiz von ihm und stand langsam vom Boden auf. Er überging die Schmerzen im Gesicht und gab keinen Laut von sich. Jedes Wort wäre ohnehin überflüssig gewesen. Sobald er seine Schuld bei Hammer abgetragen und ihm geholfen haben würde, das Gold zu beschaffen, würde er sich schneller in den Wald verzogen haben, als Hammer mit der Wimper zucken konnte. Hammer nahm wieder vor dem Feuer Platz. Nach einer Weile setzte sich Jack ihm gegenüber. »Was hast du auskundschaften können?«, fragte Hammer mit ruhiger Stimme, gerade so, als hätte es den Gewaltausbruch vorhin gar nicht gegeben. »Rein- und wieder rauszukommen ist kein Problem«, antwortete Jack und betupfte die Nase vorsichtig mit dem Ärmel. »Bewacht wird das Fort von vier Rangern, die aber nicht mal eine anständige Wache auf die Beine kriegen. Ich bin sicher, auch sie wissen nicht, wo das Gold steckt.« »Vielleicht doch. Vielleicht haben sie's so gut versteckt, dass sie's mit der Wache nicht mehr so genau nehmen müssen«, überlegte Wilde. »Ich habe mich überall gründlich umgesehen«, entgegnete Jack, der nach wie vor nur Hammer im Auge hatte. »Da ist kein Gold.« »Also nur vier Männer«, murmelte Hammer nachdenklich. »Zwei Männer und zwei Frauen«, korrigierte Jack. »Die eine der beiden Frauen ist eine Hexe.« Wilde rutschte beunruhigt hin und her. »Eine Hexe. Das gefällt mir nicht.« »Hexen sind nicht weniger verwundbar als andere«, sagte Hammer. »Oder weißt du nicht mehr mit deinem Bogen umzugehen?« Wilde grinste müde. Er nahm seinen Bogen zur Hand und hatte ihn mit einem schnellen, geschickten Handgriff gespannt. Dann zog er einen Pfeil aus dem Köcher, der neben ihm lag, legte ihn an die Sehne, und sah sich in aller Gelassenheit nach einem Ziel in der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins um. Schließlich zog er die Sehne zurück, zielte und ließ den Pfeil fliegen - alles in einer einzigen fließenden Bewegung, die so schnell war, dass man ihr mit den Augen nicht folgen konnte. Gleich darauf fiel, von Wildes Pfeil durchbohrt, eine Eule vom Himmel. Sie zuckte noch ein wenig und verströmte Blut aus der schneeweißen Brust. Wie ein Blitz war Jack zur Stelle und ging vor dem Vogel, der scheinbar vorwurfsvoll zu ihm aufblickte in die Knie. »Du hättest mir nicht folgen dürfen, mein Freund«, flüsterte Jack. »Ich bin in letzter Zeit in schlechter Gesellschaft.« Dann brach er den Pfeil entzwei und zog ihn so vorsichtig wie möglich aus dem Vogelleib. Die Eule gab einen kläglichen Laut von sich. Jack legte seine linke Handfläche auf die blutende Wunde und schloss die Augen. Sein Geist griff weit aus, und die Bäume verliehen ihm Kraft. Er nahm diese Kraft auf und gab sie an den Vogel weiter, der sofort zu bluten aufhörte. Bald war auch die Wunde verheilt und verschwunden. Jack öffnete die Augen und setzte sich zurück auf die Hacken. Das Zaubern erschöpfte ihn immer sehr. Die Eule rappelte sich auf. Anfangs stand sie noch unsicher auf den Beinen, anscheinend irritiert darüber, nun doch nicht sterben zu müssen. Dann warf sie Jack einen strengen Blick zu, breitete die Flügel aus und flog in den ihr vertrauten Nachthimmel auf. Jack nahm eine Bewegung im Rücken wahr und wirbelte mit gezücktem Messer herum. Wilde hatte einen zweiten Pfeil aufgelegt, den er der Eule hinterherschicken wollte, zögerte aber, als er Jack sah. »Nur zu«, sagte Jack. »Versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.« Wilde war sichtlich verunsichert. »Du wirst dich doch wohl nicht wegen einer verfluchten Eule an mir vergreifen wollen.« »Meinst du?« Wilde spürte plötzlich einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Zwar konnte ihm, dem Meisterschützen, ein Mann mit einem Messer kaum gefährlich werden, doch diese Vogelscheuche wusste die Kraft der Bäume für sich zu nutzen, und Wilde wähnte unzählige Augen auf sich gerichtet - die Augen des Waldes. Der Wind flüsterte in den Zweigen der Bäume am Rand der Lichtung, und ihm war, als hörte er warnende Stimmen. »Es reicht«, sagte Hammer. Der Bann war gebrochen. Wilde atmete erleichtert auf. Er legte den Bogen ab und steckte den Pfeil zurück in den Köcher, worauf Jack sein Messer im Ärmel verschwinden ließ. Hammer nickte. »Packt eure Sachen zusammen«, sagte er. »Wir gehen zurück zum Fort.« »Jetzt?«, stöhnte Wilde. »Mitten in der Nacht?« »Was ist los?«, fragte Jack. »Angst vorm Dunkeln?« Wilde warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich dachte eher an die Ranger. Deinetwegen dürften sie jetzt auf der Hut sein.« »Sie werden nicht damit rechnen, dass wir schon heute Nacht wieder auftauchen«, sagte Hammer. »Wir können's uns nicht leisten, noch lange zu warten. Wenn alles nach Plan läuft, wird in wenigen Tagen Verstärkung eintreffen, und das heißt, wir hätten's dann mit einem ganzen Bataillon Gardisten zu tun. Wir sollten also das Gold - ich würde sagen, in spätestens vierundzwanzig Stunden - eingesackt und die Gegend verlassen haben. Es sei denn, wir vergessen die ganze Sache. Jack, wie wird das Wetter?« »Ziemlich schlecht«, antwortete Jack. »Es zieht ein Gewitter auf. Ich spür's genau. Und es wird heftig regnen. Sehr bald schon.« »Könnte uns gelegen kommen. Als Ablenkung.« Hammer hob die rechte Hand und befingerte versonnen das mit Leder umwickelte Heft seines langen Schwertes, das neben dem Kopf über die Schulter hinausragte. Jack mochte es nicht, wenn Hammer auf diesen Tick verfiel. Es sah aus, als tätschelte er ein Tier. Das Langschwert machte Jack Angst. Selbst durch die silberne Scheide hindurch konnte er die rohe Gewalt spüren, die wie ein anhaltendes Summen von der Klinge ausging. Das Schwert hatte selbst magische Kräfte, und die waren alles andere als heilsam. Seit er mit Hammer zusammen war, hatte er ihn noch nie die Klinge ziehen sehen, und er hoffte insgeheim, dass es dazu auch nie kommen würde. Als Hammer die Hand endlich sinken ließ, konnte Jack wieder erleichtert aufatmen. »Wilde«, sagte Hammer, »du bringst die Hexe um, sobald sich dir eine Gelegenheit dazu bietet. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich werde mich mit Jack um die Ranger kümmern.« Wilde nickte. Jack wollte etwas sagen, behielt es dann aber doch für sich. Er dachte an die Hexe zurück. Sie war jung und sehr hübsch. Doch er schuldete ihr nichts. Hammer gegenüber war er allerdings noch verpflichtet. Aber nicht für immer, Hammer; nicht für immer. Geduldig wartete er am Rand der Lichtung, während Hammer das Feuer löschte und Wilde sich mit geradezu zärtlicher Hingabe seinem Bogen und den Pfeilen widmete. Jack setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ die Gedanken treiben. Wie so häufig in jüngster Zeit führten sie ihn zurück in die Fallgrube, aus der ihn Hammer befreit hatte. Es war eine simple Falle. Jack folgte einem Wildwechsel, als er plötzlich in der Nähe das Gezwitscher aufgebrachter Vögel hörte. Sofort blieb er stehen, so reglos, dass er mit seinen Lumpen im grün besprenkelten Schatten des Waldes nicht auszumachen war. Irgendetwas musste die Vögel aufgeschreckt haben, und Jack hätte nicht schon neun Jahre im Wald überlebt, wenn er solche Alarmsignale unbeachtet ließe. Nach einer Weile setzte er sich wieder in Bewegung und schlich vorsichtig auf die Stelle zu, wo er die Störung vermutete. Auf allen vieren kriechend, gelangte er schließlich an den Rand einer kleinen Lichtung. Mittendrin saß auf einem Stumpf ein Mann. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt, trug die Uniform eines Gardesoldaten und war mit einer Axt bewaffnet, die neben ihm am Baumstumpf lehnte. Jack ließ ihn nicht aus den Augen und wartete, doch der Soldat rührte sich nicht. Andere Soldaten waren nicht in Sicht. Jack runzelte die Stirn. Anscheinend fahndete man wieder nach ihm. Vielleicht war das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld erhöht worden. Wenn ja, würde der Soldat bestimmt nicht allein im Wald sein. Jack hielt es deshalb für ratsam, das Weite zu suchen. Aber Neugier hielt ihn zurück. Der Soldat hatte sich während der ganzen Zeit, in der er ihn beobachtete, nicht von der Stelle gerührt. Er schien zu schlafen, zumal der Kopf nach vorn gebeugt war. Oder womöglich war er tot. Jack kniff die Brauen zusammen. Die Richtung, in die er sich von seinen Gedanken gedrängt sah, behagte ihm nicht, aber er konnte sie auch nicht außer Acht lassen. In diesem Teil des Waldes gab es zwar nicht viele Raubtiere, die sich über einen bewaffneten Mann hermachen würden, doch es war nicht auszuschließen, dass Wölfe aufkreuzten… Jack biss sich auf die Unterlippe. Sich an einen bewaffneten Mann auf einer Lichtung heranzupirschen war selbst für ihn keine Kleinigkeit. Aber er musste herausfinden, warum der Soldat so reglos dahockte. Womöglich lief hier irgendwo ein Mörder frei herum. Und außerdem war er neugierig. Schmunzelnd schüttelte Jack den Kopf. Eines Tages würde ihn die eigene Neugier noch in große Schwierigkeiten bringen. Lautlos trat er hinter den Bäumen hervor und schlich auf die Lichtung hinaus. Schnell sah er sich nach allen Seiten um, bereit, auf das erste Anzeichen einer Gefahr wieder kehrtzumachen. Alles schien ganz vertraut. Die Sonne strahlte aus wolkenlosem Himmel. Es war angenehm warm. Insekten summten in windstiller Luft, und in den Bäumen sangen Vögel. Von dem nach wie vor reglosen Soldaten abgesehen, war die Lichtung leer. Vorsichtshalber zog Jack das Messer aus dem Ärmel und schlich langsam näher, Schritt für Schritt, den Blick angestrengt auf den Rücken des Soldaten gerichtet. Fast hatte er die sitzende Gestalt erreicht, als der Boden plötzlich unter den Füßen nachgab und er in ein Loch stürzte. Er landete so unglücklich und wuchtig auf dem festgetrampelten Lehmboden der Fallgrube, dass ihm für eine Weile die Luft wegblieb. Als der jähe Schmerz des Aufpralls abgeklungen war und Jack wieder durchatmen konnte, bewegte er behutsam Arme und Beine und stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass ihm alle Knochen heil geblieben waren. Ein gebrochenes Bein hätte seinen sicheren Tod bedeutet, selbst wenn es ihm gelungen wäre, der Grube zu entkommen. Er wäre eines elenden Hungertodes gestorben. Vorsichtig richtete er den Oberkörper auf und sah sich um. Er war fast zehn Fuß tief gestürzt und konnte von Glück sagen, dass er sich nur Prellungen und ein paar Schürfwunden zugezogenen hatte. Er stand auf und spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören. Diejenigen, die ihm diese Falle gestellt hatten, waren offenbar nicht zugegen. Wenn er sich geschickt anstellte, würde er verschwinden können, bevor man ihn hier erwischte. Doch seine Hoffnungen wurden enttäuscht, als er feststellen musste, dass die Erde an den Rändern der Grube unter den Fingern weg bröckelte und keinerlei Halt bot. Jack plierte nach oben in den hellen Ausschnitt. Es waren nur neun oder zehn Fuß, doch es hätte genauso gut ein Vielfaches davon sein können. An eine Flucht war nicht zu denken. Er versuchte es, doch es half nichts. Also setzte er sich auf den Boden der Grube und wartete auf seine Häscher. Vielleicht waren sie ja so gut und verzichteten darauf, ihn an Ort und Stelle zu töten. Vielleicht würden sie ihn stattdessen im nächsten Ort aufs Schafott schaffen wollen. Dann bliebe ihm immerhin noch die Chance, Reißaus zu nehmen. Jack schmunzelte freudlos. Ein hübscher Gedanke, nicht mehr. Dass er ihnen noch einmal entwischte, wie früher schon so oft, würde man jetzt bestimmt zu verhindern wissen. Wenn seine Häscher schlau wären, würden sie ihm vom Grubenrand aus mit einem Pfeil den Garaus machen. Jack lehnte sich an die Erdwand zurück und starrte in den Himmel. Der war hell und klar und sehr blau. Er befand sich in seinem Wald. Es gab schlimmere Arten zu sterben. Plötzlich wurde es dunkler; die Umrisse eines Kopfes und breiter Schultern schoben sich vor den Ausschnitt. Jack stand auf und griff nach dem Messer. Vor einem Pfeil in Deckung zu gehen hatte keinen Sinn, aber er würde sich wehren. Das war er seinem Namen schuldig. »Hallo, da unten«, sagte eine Männerstimme. »Hallo, da oben.« Die Stimme drohte zu kippen, was er aber nicht zuließ. »Es scheint, du steckst in der Klemme«, sagte der Mann. »Sieht so aus.« »Kann es sein, dass du Vogelscheuchen-Jack bist?« »Unter Umständen.« Der Mann lachte. »Freu dich, dass ich hier zufällig vorbeigekommen bin. Augenblick, ich bin gleich wieder da. Nicht weglaufen.« Er verschwand. Jack schöpfte vorsichtig Hoffnung. Vielleicht hatte er ja tatsächlich Glück. Der Mann kehrte zurück und warf das Ende eines Seils in die Grube. Jack zog ein paar Mal kräftig daran, um dessen Festigkeit zu prüfen und kletterte dann aus der Grube. Flink wälzte er sich über den Rand und musterte seinen Retter mit argwöhnischem Blick. Der Mann war an seiner Haltung, der Montur und dem Schwert als Soldat zu erkennen, trug aber keinerlei Insignien. Er war groß und hatte ein durchaus freundliches Gesicht. Was aber mehr als alles andere an ihm auffiel, war das Langschwert, dessen Heft hinter der linken Schulter aufragte. Selbst aus der Entfernung einiger Schritte konnte Jack die Gewalt spüren, die in dieser Waffe steckte und darauf zu warten schien, losgelassen zu werden. Jack fragte sich, ob es für ihn in der Grube nicht womöglich sicherer gewesen wäre. »Danke«, sagte er. »Könnte sein, dass du mir das Leben gerettet hast.« »Könnte sein«, antwortete der Mann. »Wie bist du in dieses Loch hineingeraten?« Jack zuckte die Achseln. »Ich war ein bisschen zu neugierig.« Er schaute sich um und war nicht überrascht zu sehen, dass der Wachposten immer noch auf dem Baumstumpf saß, gerade so, als wäre es ihm völlig gleichgültig, was hinter seinem Rücken vor sich ging. Jack ging auf die reglose Gestalt zu und sah ihr ins Gesicht. Es war eine Puppe - auf Abstand mit einer lebendigen Person zum Verwechseln ähnlich, aber eben nur eine Puppe. Jack musste lachen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. »Vogelscheuche führt Vogelscheuche auf den Leim. Nicht schlecht. Und es hätte mich tatsächlich erwischt, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Besten Dank.« »Das reicht mir nicht«, sagte der Mann ruhig. Jack merkte auf und griff möglichst unauffällig mit der Rechten an den linken Ärmel, in dem sein Messer steckte. »Versuch's gar nicht erst«, sagte der Mann. »Du willst doch nicht, dass ich mein Schwert ziehe, oder?« »Nein«, antwortete Jack. »Mein Name ist Jonathon Hammer. Ich habe dir das Leben gerettet. Du stehst jetzt in meiner Schuld, Vogelscheuchen-Jack. Die kannst du abtragen, indem du für zwei Monate in meinen Dienst trittst.« Jack ließ sich die Grube und Hammers Schwert durch den Kopf gehen und nickte. »Na gut«, sagte er. »Für zwei Monate bin ich dein Diener.« »Schön. Es heißt, dass du auf deine Art ein ehrenwerter Mann bist. Tu, was ich dir sage, und wir werden gut miteinander auskommen. Vielleicht wirst du sogar reich dabei. Solltest du allerdings querzutreiben versuchen…« »Ich stehe zu meinem Wort«, knurrte Jack. »Darauf ist Verlass.« »Ja«, antwortete Hammer grinsend. »So sagt man.« Das war vor zwei Wochen gewesen. Seitdem ging es Jack so dreckig wie nie zuvor in seinem Leben. Mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, Hammer und Wilde den Rücken zu kehren und im Wald zu verschwinden. Doch das konnte er einfach nicht. Vogelscheuchen-Jack war ein Mann, der auf Ehre hielt und niemandem etwas schuldig blieb. Hammer und Wilde waren zum Aufbruch bereit. Jack führte sie durch den Wald zur Grenzfeste. Je eher er die ganze unleidige Geschichte hinter sich gebracht haben würde, desto besser. Jedoch - und darauf war er nicht weiter eingegangen, weil die beiden bloß gelacht hatten - mit dem Fort stimmte irgendetwas nicht. Darin spukte es. Das spürte er unter der Haut. Doch er sagte auch jetzt nichts und begnügte sich damit, Augen und Ohren besonders aufmerksam offen zu halten. Es drängte sich ihm das ungute Gefühl auf, dass seine Probleme noch längst nicht überstanden waren. Träume in erwachender Welt Über dem Wald brach schließlich der Gewittersturm aus. Donner krachten, Blitze zuckten, und der Regen stürzte wie aus Eimern gegossen herab, schlug durchs Laub und prasselte auf den Boden. Die offenen Pfade verwandelten sich sofort in Suhlen aus Schlamm und Mulch. Die Vögel und alles Getier suchten in Löchern oder Bauten Schutz vor der Sintflut, und im ganzen Wald bewegte sich kein lebendes Wesen mehr, ausgenommen jene drei dunklen Gestalten, die, nass bis auf die Haut, mit fester Absicht ihr Ziel verfolgten. Das Donnern schien kein Ende nehmen zu wollen; und die Blitze folgten Schlag auf Schlag aufeinander, dass es zwischendurch kaum wieder dunkel wurde. Die Banditen stampften durch tiefen Morast, rutschten immer wieder aus und fielen nicht selten der Länge nach hin; Hammer aber ließ sich durch nichts aufhalten und trieb die beiden anderen mit Nachdruck an. Der Mond war von dicken Wolken verhängt, und das Licht der Laterne, die die Männer mit sich führten, reichte nicht weiter als zwei, drei Schritt. Selbst Vogelscheuchen-Jack drohte die Orientierung zu verlieren, doch unter Aufbietung all seiner Fähigkeiten gelang es ihm schließlich, die große Lichtung aufzuspüren. Dort angekommen, stellten sich die drei unter einen Baum und spähten auf die dunkle Silhouette des Forts hinaus. Jack nahm kaum Notiz von Kälte und Nässe; er war daran gewöhnt. Regenwasser tropfte ihm vom Gesicht, durchdrang seine Lumpen, was er aber nur am Rande wahrnahm. Wie einem Tier war ihm einerlei, was jenseits seines Einflusses lag. Eine gründliche Wäsche konnte ihm und seinen Sachen wohl auch nicht schaden, zumal Hammer und Wilde merklich ungehalten die Nase rümpften, sooft sie Wind von ihm bekamen. Er warf Wilde einen Blick zu, der in seinem dünnen, triefend nassen Mantel einen erbärmlichen Eindruck machte. Das lange Haar klebte ihm im Gesicht, und das spärliche Licht trug dazu bei, dass er wie eine ertrunkene Ratte aussah. Er zitterte am ganzen Leib und schniefte und fluchte ständig vor sich hin. Er hielt den Kragen eng umschlossen, um zu verhindern, dass er, einem Trichter gleich, den Regen in den Nacken und über den blanken Rücken laufen ließ. Hammer dagegen schien vom schlechten Wetter ungerührt zu sein; er starrte gebannt in Richtung Fort und achtete so wenig wie Jack auf Nässe und Kälte. »Zumindest können wir jetzt ziemlich sicher sein, dass auf den Wehrgängen so gut wie keine Wachen stehen«, erklärte er nach einer Weile. »Wer rechnete auch damit, dass bei dem Regen jemand unterwegs ist?« »Jedenfalls keiner, der noch halbwegs bei Verstand ist«, maulte Wilde, der gleich darauf kräftig niesen musste und anschließend den Schnodder mit dem Ärmel abwischte. »Wie lange wollen wir hier eigentlich rumstehen? Ich hol mir noch den Tod.« An Jack gewandt, fragte Hammer: »Wird sich das Gewitter bald verziehen?« Jack sah sich um und dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube nicht. Es wird sich allem Anschein nach eher noch verschlimmern.« »Also gut«, sagte Hammer. »Machen wir uns auf den Weg. Was auch passiert, wir bleiben zusammen. Nicht dass einer auf die Idee kommt, einen Alleingang zu machen.« Er sah sich ein letztes Mal um, deckte die Laterne ab und rannte dann, dicht gefolgt von Wilde und Jack, auf das Grenzfort zu. Auf der offenen Lichtung schüttete der Regen so heftig herab, dass er alle anderen Laute übertönte, und trotz Laterne und der vielen Blitze war kaum mehr die Hand vor Augen zu sehen. Wilde ließ sich zurückhängen, zumal er immer wieder ausglitt und stürzte. Jack hatte Mühe, ihn auf Trab zu halten. Trotzdem war Hammer bald enteilt und nur noch als undeutlicher Schatten auszumachen. Unter dem Eindruck des kalten Regens zitterte Jack am ganzen Leib. Die Lichtung kam ihm jetzt viel größer vor als er gedacht hatte. Das Fort war nicht zu erkennen, und er fragte sich, ob Hammer womöglich die Orientierung verloren hatte und am Ziel vorbeilief. Doch dann tauchte das Gemäuer aus dem Regen auf, so plötzlich, dass er scharf abbremsen musste, um nicht dagegen zu laufen. Im Windschatten der Mauer schüttelte sich Jack wie ein Hund, was ihm aber auch nicht viel half. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor in seinem Leben derartig nass gewesen zu sein. Der Regen hatte noch zugenommen und drohte einem den Atem zu nehmen. Hammer forderte ihn mit Gesten auf, das Seil aufzuschlagen. Zu reden wäre vergeblich gewesen, so laut donnerte und regnete es. Jack wickelte das Seil auseinander, prüfte den Halt des Draggens und blickte zur Mauer hinauf. Die ins Gesicht klatschenden Tropfen taten so weh, dass er sich abwenden musste. Es dauerte eine Weile, bis er wieder Mut fasste, einen Blick nach oben riskierte und den Draggen hochschleuderte. Der flog gleich beim ersten Versuch dicht über den Mauerrand hinweg und verhakte sich dahinter. Jack zog das Seil stramm und schaute Hammer an, der ihm zunickte und ihn aufforderte, als Erster hinaufzuklettern. Jack vergewisserte sich, dass das Seil fest genug war und machte sich auf den steilen Weg nach oben. Seil und Mauer waren schrecklich schlüpfrig, und Jack musste ein ums andere Mal blitzschnell reagieren und fest zupacken, um einen Absturz zu verhindern. Als er endlich die Bastion erreicht hatte, ließ er sich entkräftet in den Wehrgang fallen und schnappte nach Luft. Widerwillig raffte er sich schließlich wieder auf und zog zweimal kurz am Seil, um zu signalisieren, dass der Nächste hochkommen konnte. Wilde tat sich noch viel schwerer; Jack musste weit nach unten greifen und ihm mit aller Gewalt über die Brüstung helfen. Hammer, der zum Schluss kam, schien dagegen kaum Schwierigkeiten zu haben. Zu dritt eilten sie über den engen Wehrgang weiter, der Treppe entgegen, und in den Hof hinunter. Duncan MacNeil führte seinen Trupp durch das Fort und steuerte hinab in die Kellergewölbe. Die dicken Mauern hielten das Tosen des Sturms draußen. MacNeil und Constance trugen Laternen, während Flint und der Tänzer ihre Schwerter gepackt hielten. »Ich verstehe nicht, warum wir uns ein zweites Mal im Keller umsehen sollen«, sagte Constance. »Wir wissen doch schon, dass das Gold da nicht zu finden ist.« MacNeil zuckte mit den Achseln. »Es muss hier irgendwo sein. Vielleicht gibt's noch einen Keller unter dem Keller oder Geheimgänge, die wir übersehen haben.« »Und wenn nicht?«, fragte Constance. »Dann gehen wir noch einmal jeden verdammten Raum durch und nehmen alles auseinander, bis wir das Gold endlich gefunden haben. Hast du's wirklich noch nicht mit deinem sechsten Sinn entdeckt?« Die Hexe stöhnte ungehalten. »Ich kann's ja nochmal versuchen, Duncan, aber es wird nichts nützen. Hier ist irgendetwas, dass meiner Hellsicht entgegenwirkt.« Sie blieb stehen, setzte die Laterne ab, massierte ihre Schläfen mit den Fingerspitzen und schloss die Augen. Das gedämpfte Gewitter im Hintergrund lenkte ab, doch es gelang ihr, alle Störungen auszublenden. Die Dunkelheit verdichtete sich und öffnete ihr inneres Auge. Sie erzitterte, als ein bitterkalter Luftschwall durch sie hindurchwehte, und es machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihr breit, das schließlich an Panik grenzte. Constance kämpfte dagegen an, und während sie dies tat, öffnete sich ihr Zweites Gesicht und entdeckte ihr ein einzelnes, riesiges Auge, das in ihre Richtung starrte und ihre Anwesenheit gewahrte. Erschrocken brach Constance den Kontakt sofort ab und nahm sich davor so gründlich wie möglich in Schutz. Der flüchtige Blick hatte ausgereicht, um einen unbestimmten Eindruck zu bekommen, wovon sie Näheres erst gar nicht wissen wollte. Ängstlich zog sie die Schultern ein und spürte trotz des Schutzschirms, den sie um sich aufgespannt hatte, etwas Schreckliches, das im Dunkeln umherstreifte und Ausschau nach ihr hielt. Dann aber entfernte es sich. Zitternd und schluchzend schlug Constance die Augen wieder auf. »Und?«, fragte MacNeil ungeduldig. »Da ist irgendetwas hier bei uns im Fort«, antwortete Constance. »Ich weiß nicht, was es ist oder wo es steckt, aber es scheint sehr alt und äußerst gefährlich zu sein. »Fang jetzt nicht wieder damit an«, sagte MacNeil. »Außer uns ist hier niemand. Die Nerven spielen dir einen Streich. Wir sind alle ein bisschen überspannt.« Constance warf ihm einen kühlen Blick zu, sagte aber nichts. Vielleicht hatte er ja sogar Recht. Sie konnte ihrem Gespür auch nicht voll und ganz trauen. MacNeil setzte sich wieder in Bewegung. Flint und der Tänzer folgten. Constance nahm ihre Laterne wieder zur Hand und bildete das Schlusslicht. Vor lauter unterdrückter Wut zitterte ihr die Hand, was die Schatten der Gruppe umso bizarrer umherzucken ließ. MacNeil sah sich kein einziges Mal nach ihr um. Tatsächlich war ihm selbst einigermaßen mulmig zumute, denn er konnte Constances Warnungen nicht einfach außer Acht lassen, sosehr er es sich auch wünschte. Schließlich hatte sie das Zweite Gesicht. Salamander hättest du aufs Wort geglaubt… Ja, zugegeben. Aber Constance war bei weitem nicht so erfahren wie ihre Vorgängerin, und solange sie nichts Handfesteres offen legte als irgendwelche Befürchtungen, sah er keine Veranlassung, sich von den Kellergewölben fern zu halten. Auch wenn ihm selbst darin die Haare zu Berge standen. Constance wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie beleidigt war, darüber nämlich, dass er ihr einfach nicht traute, obwohl sie sich so viel Mühe gab und ihr Bestes versuchte. Als sie erfahren hatte, welcher Ranger-Gruppe sie angehören sollte, war sie überglücklich gewesen. Sie kannte Sergeant Duncan MacNeil und hatte schon als junges Mädchen für ihn geschwärmt, seit er sie in ihrer kleinen Heimatstadt Königseck vor Dämonen in Schutz genommen hatte. Sie hatte alle für sie erreichbaren Hebel in Bewegung gesetzt, um seinem Trupp zugeteilt zu werden, damit sie sich ihm erkenntlich zeigen konnte - als beste Hexe, die ihm je zur Seite gestanden hatte. In ihren Träumen hatte sie sich sogar noch mehr versprochen. Jetzt war sie zum ersten Mal mit ihm im Einsatz und alles lief schief. Weil er ihr keine Möglichkeit einräumte, sich zu bewähren. Constance reckte das Kinn nach vorn. Sie würde es ihm schon noch zeigen. Und nicht nur ihm. Der Keller war bald erreicht. Angesichts des heillosen Durcheinanders schüttelte MacNeil den Kopf. Offenbar war seit den ersten Tagen des Forts hier unten aller Unrat abgeladen worden. Constance hängte ihre Laterne an einen Wandhaken und sagte: »Bis auf das Gold wäre hier alles zu finden. Aber du willst doch wohl nicht, dass wir im Müll wühlen?« »Ich fürchte, wir kommen nicht daran vorbei«, antwortete Duncan. Flint verzog das Gesicht. »Hoffentlich stecken wir uns nicht mit irgendeiner Seuche an.« »Wenn das bloß unsere einzige Sorge wäre«, entgegnete Constance. »Habt ihr schon bemerkt, wie kalt es hier unten ist?« MacNeil krauste die Stirn, als er sah, dass sich sein Atem vor dem Mund in Dampf verwandelte. Er fing plötzlich zu frieren an, schlug den Umhang enger um sich und rätselte, ob es auch schon während ihres ersten Besuchs im Keller dermaßen kalt gewesen war. Er warf einen Blick in die Runde und sah, dass auch den anderen Dampf vorm Gesicht stand. Dann fiel ihm auf, dass sich Raureif an den Wänden bildete - und er erschauderte. So kalt kann es doch gar nicht sein, unmöglich… Er strengte seinen Verstand an und starrte auf die Abfälle am Boden. »Wenn es noch eine Etage tiefer geht, muss sich hier irgendwo eine Falltür befinden«, sagte er. »Kommt, schaffen wir den Müll beiseite. Wir müssen den Boden freilegen.« Die anderen nickten und machten sich an die Arbeit. MacNeil setzte seine Laterne ab und packte mit an. Den ganzen Kehricht wegzuräumen kostete viel Zeit und Mühe, doch am Ende war, wie erhofft, eine Falltür freigelegt, genau in der Mitte des Bodens. Sie bestand aus einer fast sechs mal sechs Fuß großen Platte aus Eichenbrettern und war mit zwei schweren Eisenstangen verriegelt. MacNeil kniete sich hin und prüfte die Riegel, scheute aber aus unbestimmten Gründen davor zurück, sie in die Hand zu nehmen. Dabei handelte es sich nur um ganz gewöhnliche Riegel. Und dennoch richteten sich ihm alle Härchen im Nacken und auf den Unterarmen auf, und dass er eine Gänsehaut bekam, lag nicht nur an der Kälte im Keller. Er schaute Constance an und sagte mit betont ruhiger Stimme: »Versuch bitte mit deinen Mitteln herauszufinden, was unter dieser Falltür liegt.« Die Hexe nickte und starrte auf die Eichenbretter. Ihr Blick verschleierte sich und wirkte wie entrückt. Tief im Innern der Erde rührte sich etwas und wünschte aufzuwachen. Schwer lasteten die Erd- und Steinmassen und die Zeit nagte an seinen Knochen. Dunkelheit kam und ging, so schnell, dass es in seinem Schlaf bislang unbeeindruckt davon geblieben war; doch allmählich lösten sich die Ketten seiner Ohnmacht. Es träumte üble Träume und die Welt stand Kopf. Bald würde es aus seinem Schlaf erwachen und zum Entsetzen aller seinen Namen nennen. Constance brach die Verbindung ab, worauf ihre Hellsicht wieder eintrübte. Von einem heftigen Schwindel gepackt, geriet sie ins Wanken und würgte vor Ekel in Erinnerung dessen, was sie im Ansatz erspürt zu haben glaubte. Alarmiert von ihrem bleichen Gesicht, nahm MacNeil sie beim Arm. »Es geht schon wieder, Duncan«, sagte sie und lächelte matt. »Was ist dir zu Gesicht gekommen?« »Dasselbe wie zuvor. Aber jetzt habe ich es ein bisschen deutlicher gesehen. Da steckt etwas in der Tiefe, etwas, das sehr alt, böse und unermesslich mächtig ist. Noch schläft es, könnte aber jeden Augenblick aufwachen. Von ihm gehen entsetzliche Träume aus, die die Leute hier in den Wahnsinn getrieben haben.« MacNeil legte die Stirn in Falten. »Na schön, ich glaube dir, Constance. Was bleibt mir auch anders übrig. Sprich's aus, womit haben wir's zu tun? Mit einem Dämon?« »Nein, es ist um einiges älter. Ich weiß auch nicht genau, wo es steckt, jedenfalls nicht unmittelbar unter der Falltür, sondern sehr viel tiefer.« MacNeil nickte. »Wir müssen uns die Sache aus der Nähe ansehen. Ist es gefährlich, nach unten zu gehen?« »Ja«, antwortete die Hexe. »Aber frag mich nicht, wie sehr.« »Deine Hinweise sind ziemlich dürftig.« »Besser weiß ich es nicht. Und überhaupt, warum willst du unbedingt da runter? Warum warten wir nicht einfach, bis Verstärkung gekommen ist?« »Denk doch mal nach«, erwiderte MacNeil. »Ich habe den Auftrag, das Gold zu finden, koste es, was es wolle. Wie würden wir dastehen, wenn herauskommt, dass wir von der Falltür wussten, aber aus Angst darauf verzichtet haben, einen Blick dahinter zu werfen? Nein, Constance, ich werde sie öffnen und nach unten steigen. Flint, Giles, haltet euch bereit. Wenn die Tür offen ist, und es steigt etwas daraus hervor, schlagt zu und fackelt nicht lange.« »Verstanden«, antwortete Flint. Der Tänzer schmunzelte. An Constance gewandt, sagte MacNeil: »Sei auf der Hut und hilf uns, wo du kannst. Aber komm uns bloß nicht in die Quere. Die Kämpfer sind wir.« Die Hexe nickte, worauf MacNeil nach dem ersten der beiden Riegel griff - und die Hand sofort wieder zurückzog, denn er hatte den Eindruck, als sei das Eisen unter seiner Berührung lebendig geworden. Er schaute es sich aus der Nähe an, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Das sind die Nerven, dachte er, nur die Nerven, nichts weiter. Wieder packte er zu und zerrte daran. Der Riegel rutschte zur Seite, wie geschmiert und fast lautlos. MacNeil schluckte und versuchte sich an der zweiten Eisenstange. Die war sehr viel weniger leicht zu bewegen, und er musste sich mächtig ins Zeug legen, um auch sie beiseite schieben zu können. Danach nahm er den schweren Eisenring in der Mitte der Tür in beide Hände, holte tief Luft und zog mit aller Kraft, zunächst ohne Erfolg. Doch er ließ nicht locker, bis es plötzlich laut krachte und die Tür schwungvoll aufflog. Und aus der Öffnung quoll Blut, zähflüssig und in nicht enden wollendem Strom. Es spritzte bis unter die Decke und fiel als roter, stinkender Regen zurück. Immer mehr Blut flutete aus dem Loch und überschwemmte den gesamten Keller. MacNeil und die anderen versuchten Reißaus zu nehmen, doch es gab für sie kein Entrinnen. Unaufhörlich und unter gewaltigem Druck ergoss sich das Blut. Dann aber, urplötzlich, versiegte der Strom. MacNeil hob den Kopf und schaute sich um. Blut tropfte vom Gewölbe und rann dampfend von den Wänden. Der ganze Raum sah aus wie mit roter Farbe frisch gestrichen. Der Gestank war kaum auszuhalten. Vorsichtig rückte MacNeil auf die Luke zu. Die anderen taten es ihm gleich. Alle vier waren über und über mit Blut beschmiert. Flint schüttelte angewidert den Kopf. »Auf Schlachtfeldern geht's jedenfalls weniger blutig zu«, bemerkte sie. »Wo zum Teufel kommt das ganze Blut wohl her?« »Keine Ahnung«, sagte MacNeil. Er starrte ins dunkle Loch, konnte aber nichts sehen. Stattdessen schlug ihm noch immer der Gestank frischen Blutes entgegen. Constance reichte ihm ihre Laterne, die er vorsichtig in den Ausschnitt senkte. Im Schein des gelben Lichtes entdeckte er Stufen aus grob behauenem Holz, die in einen engen Stollen hinabführten. Weiter reichte das Licht nicht. MacNeil sah nur, dass Stufen und Stollenwände restlos mit Blut beschmiert waren. Die anderen hockten sich neben ihn und schauten hinab, als plötzlich Geräusche aus der Tiefe herauftönten, die alle vier vor Schreck erstarren ließen. Es waren schlurfende Geräusche; ob sie sich näherten oder entfernten, war nicht zu unterscheiden. MacNeil sah den Gefährten an, dass auch sie keinen Rat wussten. Plötzlich verstummten die Geräusche. MacNeil setzte die Laterne ab und zog sein Schwert. »Flint, du bleibst mit Constance hier und hältst Wache. Tänzer und ich steigen nach unten. Mal sehen, was sich hinter dem Tunnel verbirgt.«  Grinsend zückte der Tänzer seine Klinge. MacNeil fuhr fort: »Wenn was schief geht, macht die Tür zu und legt die Riegel vor, gleichgültig, ob wir wieder draußen sind oder nicht. Falls da unten Gefahr lauert, will ich nicht, dass sie sich auch noch auf das ganze Fort erstreckt. Seht also zu, dass die Falltür sicher verschlossen ist, und meldet der Verstärkung, die hoffentlich bald eintrifft, was geschah.« »Wir können dich und den Tänzer doch nicht einfach im Stich lassen«, meinte Constance. »Doch, das können wir«, entgegnete Flint. »Er hat Recht, Constance. Unsere Pflichten als Ranger gehen vor. Wir haben unseren Job zu tun.« Die Hexe wandte sich ab. Mac Neil sah sie einen Augenblick lang an, nahm dann die Laterne zur Hand und schlüpfte vorsichtig durch die Türöffnung. Die schmalen Holzstufen knarrten unter seinem Gewicht, hielten aber stand. Die Laterne am langen Arm vor sich herführend, stieg er langsam hinab ins Dunkle. Der Tänzer folgte dichtauf, das Schwert in Bereitschaft. Schatten trudelten an den Wänden bedrohlich umeinander. MacNeil zählte dreizehn Stufen, bis er an einen Stollen kam, der kaum zwei Schritt breit war. Er rückte ein Stück zur Seite, duckte sich, um den Kopf nicht anzustoßen, und ließ den Tänzer zu sich aufschließen. Schulter an Schulter rückten sie nun weiter vor. Die Tunnelwand war wie abgezirkelt, so rund gewölbt, zeigte aber keinerlei Spuren menschlicher Werkzeuge. Über den glatten, festen Lehm rann Blut, das auch in glitschigen Pfützen den Boden bedeckte. MacNeil hatte den Eindruck, er schliche durch die Eingeweide eines Riesen. Der Gestank war so entsetzlich, dass es ihm den Atem verschlug. Er hielt einen Augenblick lang inne und lauschte, doch das Geräusch von vorhin war nicht mehr auszumachen. Zögernd setzte er sich wieder in Bewegung. Der Tänzer tappte leise nebenher. Ihn an der Seite zu wissen beruhigte MacNeil. Dunkelheit, Stille und Gestank wären für ihn sonst kaum auszuhalten gewesen; allzu sehr erinnerten sie ihn an seine Zeit im Finsterholz. Er hielt das Schwertheft fest in der Hand, die, wie er spürte, trotz der Kälte zu schwitzen anfing. Gleichgültig, auf was er stoßen mochte, er würde sich mit der Waffe durchsetzen. Er war Gardist und Ranger; durch nichts in der Welt ließ er sich aufhalten. Und doch ist es schon vorgekommen, dass du am liebsten Reißaus genommen hättest. Die Dämonen tauchten auf aus der langen Nacht, so zahlreich, dass du mit dem Töten nicht schnell genug nachgekommen bist. Da wolltest du schon kehrtmachen und davon rennen. Und fast wär's so weit gewesen, aber da setzte zum Glück die Dämmerung ein. Die Sonne ging auf und trieb die Dämonen ins Dunkle zurück. Dich hat gerettet, dass es Tag wurde. Ob du damals weggelaufen wärst oder nicht, wird somit immer eine offene Frage bleiben. MacNeil blendete die mahnende Stimme aus und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Der Tunnel war anscheinend leicht abschüssig und er fragte sich beklommen, wie tief er wohl reichen mochte. Immer wieder rutschte er mit den Sohlen auf dem blutverschmierten Grund aus. Die Schatten buckelten und huschten so sehr umher, wie die Laterne in seiner Hand auf und ab wippte. Er warf dem Tänzer einen Blick zu und sah, dass der ganz und gar unbeeindruckt zu sein schien. Seine Miene wirkte so ruhig und entspannt wie immer. Plötzlich hob er eine Hand und blieb stehen. MacNeil hielt gleichfalls an. »Was ist?«, flüsterte er. Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Hör doch mal.« MacNeil krauste die Stirn und lauschte. Aus der Tiefe des Tunnels vernahm er ein leise schleppendes Geräusch, das allmählich näher kam. Da schien etwas herbeizurutschen, etwas, das wohl ziemlich schwer war. MacNeil setzte die Laterne in sicherer Entfernung auf dem Boden ab. Mit einem Blick auf den Tänzer sah er, dass der Partner schmunzelte. Die beiden Männer standen mit blankem Schwert in Erwartung dessen, was da auf sie zukam. Ein riesiger Koloss tauchte vor ihnen aus der Dunkelheit auf. Zuerst zeigte sich nur eine bleiche gräuliche Gestalt, die den gesamten Tunnel ausfüllte, doch dann, als sie näher rückte, sah sich MacNeil einem leibhaftigen Riesen gegenüber. Aufgerichtet wäre er gut und gerne zwanzig Fuß groß gewesen, doch in den engen Tunnelgrenzen war er gezwungen, auf Händen und Knien zu kriechen. Seine Haut und die Haare waren milchig weiß, die großen starrenden Augen schienen blind zu sein. Er war vollkommen nackt, bedeckt nur vom Dreck und Schmiere der Höhle. MacNeil fragte sich, wie lange dieses Monstrum schon im Untergrund ausharrte und wovon es lebte, zumal es sich ja nur kriechend vorwärts bewegen konnte, wie ein verunstalteter Wurm. Es wies mächtige, breite Pratzen auf — und Fingernägel so lang und krumm wie Krallen. Ähnlich lang und spitz waren die Zähne, und in dem massigen Gesicht zeigte sich kaum eine menschliche Regung. Geifer troff von den Lefzen und schnüffelnd schien das Monstrum nach der Witterung zu suchen, die es aus den Tiefen der Höhle hierher gelockt hatte. Mit dem Rücken schrappte es an der Decke entlang; Hände und Knie sanken im blutdurchtränkten Boden ein. Was für ein Koloss, staunte MacNeil benommen; was für Ausmaße… Langsam und schwerfällig robbte das Monstrum näher. MacNeil und der Tänzer wichen zurück, denn sie sahen nun, dass es nicht allein war. Dahinter kam noch ein Moloch angekrochen. Und damit nicht genug, es folgten, wie zu hören war, einer um den anderen. Das Ungeheuer zuvörderst hob den riesigen Kopf und fing wie ein Hund zu heulen an. MacNeil und der Tänzer erschauderten unter dem Eindruck dieses entsetzlichen Heulens, das laut und schneidend durch den Tunnel hallte. Und plötzlich rückte das Monstrum überraschend schnell weiter vor und langte mit seinen muskelbepackten Armen nach den beiden aus. MacNeil wehrte sich mit dem Schwert und schlug eine tiefe Kerbe in die ihm entgegengestreckte Hand. Das Monstrum brüllte mit ohrenbetäubender Lautstärke und zog die Hand zurück. Die Klinge steckte so tief und fest, dass MacNeil mit beiden Händen zupacken musste, um sie frei zu ziehen. Er taumelte zurück und war noch immer wie benommen von der schieren Größe seines Gegenübers. Allein die Pranke schien über den Knöcheln so breit zu sein wie MacNeils Unterarm lang. Er warf sich zu Boden, als sich diese Hand zu einer Faust ballte und nach vorn schnellte. Die Faust krachte vor die Tunnelwand, was das Monstrum in wilde Wut versetzte und veranlasste, mit beiden Fäusten zuzuschlagen. Seite an Seite wichen MacNeil und der Tänzer zurück, außer Reichweite des tobenden Gegners. Als der wieder vorpreschte, trat ihm der Tänzer beherzt entgegen und ließ sein Schwert auf die Handgelenke des Monstrums niederfahren. Dickes, violettes Blut spritzte daraus hervor und wieder erhob das Scheusal ein gellendes Gebrüll. Wieder schlug es mit verblüffender Schnelligkeit zu. Der Tänzer sprang zurück, war aber ein wenig zu langsam. Von der Faust gestreift, wurde er zur Seite geschleudert und prallte mit Wucht vor die Tunnelwand. Und der Riese rückte näher. Er quetschte seine bleichen Massen durch den Stollen und schlug trommelnd mit den Fäusten um sich. Das nachfolgende Monstrum versuchte mit Macht, die erste Position zu erreichen. MacNeil sprang auf die Füße, schnappte sich die Laterne und hackte auf den Arm des Widersachers ein. Noch mehr Blut spritzte auf, doch das Monstrum ließ sich nicht aufhalten. MacNeil zielte mit dem Schwert auf dessen Kehle, musste aber, bevor er zuschlagen konnte, den schwingenden Fäusten ausweichen. Auch der Tänzer, der auf gleicher Höhe stand, konnte den Unhold nicht aufhalten. Und so zogen sich die beiden Schritt für Schritt zurück. Die Riesen heulten und brüllten mit unverminderter Lautstärke. MacNeil und der Tänzer hatten die Stufen fast erreicht, als das erste Monstrum plötzlich und blitzschnell attackierte, mit der linken Hand MacNeil bei der Schulter und mit der rechten den Tänzer bei dem Arm zu fassen bekam, der das Schwert hielt. MacNeil stöhnte vor Schmerzen und wähnte sich wie in einen Schraubstock gespannt. Das Schwert fiel ihm aus der Hand. Auch der Tänzer wurde kreidebleich im Gesicht, hielt aber an der Waffe fest, obwohl er nicht die Kraft hatte, sie zum Einsatz zu bringen. Langsam zog das Monstrum die beiden auf sich zu, sperrte das Maul auf und entblößte seine großen, spitzen Hauer. Auf den Stufen waren nun klappernde Schritte zu hören. Flint und Constance eilten zur Hilfe. Die Hexe hob beide Hände und sprach ein einziges Zauberwort, worauf ein weißer Feuerstrahl aus den Händen zuckte, dem Riesen ins Gesicht, von dem nach kurzem Auffackeln nichts weiter übrig blieb als verkohlte Schwarte und leere Augenhöhlen. Die Pranken ließen von MacNeil und dem Tänzer ab und betasteten die knöcherne Ruine. Der Tänzer wechselte sein Schwert in die linke Hand, trat vor und rammte die Klinge in den Hals des Gegners. Zähflüssiges Blut ergoss sich über den Tunnelboden. Der Riese sackte in sich zusammen und zuckte noch, als der Nachfolger ihn zur Seite drückte und nach vorn drängte. MacNeil hob sein Schwert auf und wich zusammen mit dem Tänzer zur Stiege zurück. Constance verharrte noch immer in beschwörender Pose, und zwischen ihren Händen knisterte im weißen Lichtbogen schiere Energie. Ihr zur Seite stand Flint mit blank gezogenem Säbel. Unter ihrem Schutz schleppten sich MacNeil und der Tänzer erschöpft die Stufen hinauf. Flint folgte, worauf Constance die Hände senkte und das Feuer erlöschen ließ. Als auch sie zurück im Keller war, warf MacNeil die Falltür zu und legte beide Riegel vor. Unmittelbar darauf wurde darunter ein wüstes Poltern laut. Die Tür bebte, hielt aber stand, und nach einer Weile vergeblichen Anrennens schien sich das Monstrum endlich geschlagen zu geben. Constance nahm, völlig entkräftet, wie es schien, auf dem Boden Platz. MacNeil setzte die Laterne ab, lehnte sich auf sein Schwert und holte tief Luft. Seine Hände zitterten, und das nicht nur vor Erschöpfung. Riesen in der Erde… Hatten sie all die Leichen verschwinden lassen? In seiner Vorstellung sah er eine Armee kriechender Ungetüme durch die Falltür drängen und mit den Toten in ihre Verstecke tief im Innern der Erde zurückkehren. Er schluckte und schüttelte den Kopf, um sich von diesem Gedanken zu befreien. Als sich Hände und Pulsschlag wieder beruhigt hatten, blickte er auf und hoffte, dass den anderen sein kurzer Schwächeanfall nicht aufgefallen war. Auch Flint und der Tänzer hockten auf dem Boden. Der Tänzer versuchte mit einer Hand sein Schwert zu putzen und ließ sich von Flint den Arm massieren, den das Monstrum mit seiner Pranke erwischt hatte. Constance starrte mit besorgter Miene auf die Falltür. »Was ist los?«, fragte MacNeil. »Die Tür wird die Riesen doch wohl zurückhalten. Oder?« »Tja«, antwortete Constance zögernd. »Soviel ich sehen kann, ist von den Riesen keiner mehr da. Sie sind… weg. Verschwunden.« MacNeil musterte sie mit kritischem Blick. »Ist auf deine Hellsicht zurzeit Verlass?« »Bedingt. Mal mehr, mal weniger. Und Feuerstrahlen zu zünden kostet immer sehr viel Kraft. Aber in diesem Punkt bin ich mir sicher, Duncan. Da unten ist nichts. Rein gar nichts.«  »Unmöglich«, entgegnete MacNeil. »Diese Riesen sind aus Fleisch und Blut, keine Gespenster.« »Der, den ich abgestochen habe, war sehr lebendig«, bestätigte der Tänzer. »Ich bin doch immer noch voll von dessen Blut.« Flint lächelte ihm zu. »Deine bislang größte Beute. Wir hätten sie mit nach Hause nehmen sollen, um sie ausstopfen zu lassen.« »Das nächste Mal vielleicht«, antwortete der Tänzer. »Da unten ist nichts«, beharrte Constance. »Nicht einmal eine Spur von diesen Riesen. Macht die Tür auf und überzeugt euch selbst.« Wortlos sahen die anderen einander an. MacNeil zuckte mit den Achseln und nahm sein Schwert in die Hand. »Also gut, schauen wir nach. Haltet euch in Bereitschaft. Wir gehen vor wie gehabt.« Der Tänzer stand schwungvoll auf und warf den Lappen beiseite, mit dem er die Klinge geputzt hatte. Flint ließ sich mit dem Aufstehen etwas mehr Zeit. »Angeber«, kommentierte sie schmunzelnd. Constance stand auf und trat mit sorgenvoller Miene von der Falltür zurück. MacNeil zögerte und sah die Hexe an. »Könntest du uns gegebenenfalls wieder mit deinem Feuerstrahl zur Hilfe kommen?« »Nein. Der Einsatz vorhin hat mich vollkommen ausgelaugt. Ich bin kein Zauberer, sondern eine Hexe, die ihre Grenzen kennt.« MacNeil nickte und beugte sich über die Falltür. Er lauschte angestrengt, konnte aber nichts Verdächtiges hören. Das Schwert gepackt, holte er tief Luft und schob die Riegel zurück. Unter der Tür blieb es still. Entschlossen hievte er sie auf und sprang schnell zur Seite. Krachend klappte die Holzfüllung auf den Boden. Die Ranger warteten mit angehaltenem Atem, gefasst auf das Schlimmste, doch in der dunklen Öffnung regte sich nichts. MacNeil nahm seine Laterne und senkte sie vorsichtig ins Loch hinein. Allem Anschein nach war der Tunnel tatsächlich leer. Er schaute in die Runde. . »Fehlanzeige. Nichts deutet daraufhin, dass diese Riesen hier gewesen wären.« »Sag ich doch«, bemerkte Constance. »Sie sind weg.« »Möglich«, erwiderte MacNeil. »Ich werde jedenfalls nicht hinuntersteigen und nachsehen.« Er schickte sich an, die Falltür wieder zu schließen, hielt aber plötzlich inne und betrachtete die Unterseite. Die dicken Holzbretter trugen deutliche Spuren von den wuchtigen Fausthieben des ausgesperrten Riesen. MacNeil beeilte sich, die Tür zu schließen und zu verriegeln. Er dachte kurz nach, wandte sich dann an die anderen und sagte: »Helft mir, ein paar der schweren Fässer auf die Tür zu stellen. Ich will, dass sie möglichst fest verbarrikadiert ist.« In gemeinsamer Anstrengung schafften sie es, zwei große Fässer auf die Luke zu stellen und mit schwerem Eisenschrott zu füllen. Die Holzbretter knarrten unter dem Gewicht der Auflage. Um auf Nummer Sicher zu gehen, stellten die Ranger zwei weitere Fässer dazu. Dann traten sie einen Schritt zurück, betrachteten ihr Werk und verschnauften. »Das müsste reichen«, meinte MacNeil. »Nicht einmal ein tollwütiger Elefant käme da durch«, glaubte der Tänzer. »Und außerdem würde ich an dieser Stelle gern darauf hinweisen, dass ich Schwertkämpfer bin und kein Arbeitstier.« »Wär's dir lieber, die Riesen würden ausbrechen und dich zum Kampf stellen?« Der Tänzer überlegte nicht lange und nickte mit dem Kopf. Das Schlimme ist, er meint es ernst, dachte MacNeil. »Wir haben ein Problem«, erklärte Flint plötzlich. »Nur eines?«, erwiderte MacNeil. »An welches denkst du denn?« »Was, wenn das Gold nun in den Stollen da unten versteckt ist?«, fragte sie. »Wie wollen wir's in dem Fall bergen?« »Überhaupt nicht«, entgegnete MacNeil entschieden. »Ich bin doch nicht lebensmüde und steige noch einmal in das Loch, nur mit einem Schwert bewaffnet. Nicht für alles Geld der Welt. Wir warten, bis die Verstärkung hier ist. Dann sehen wir weiter.« Flint und der Tänzer zeigten sich einverstanden. Constance krauste die Stirn, sagte aber nichts. MacNeil seufzte leise und dehnte die schmerzenden Muskeln. Nach einem Schwertkampf hatte er sich noch nie dermaßen müde gefühlt. Es war wohl an der Zeit, an der Kondition zu arbeiten, vielleicht auch die Ernährung umzustellen. MacNeil verzog das Gesicht. Er hasste es, sich an Diätpläne halten zu müssen. »Na schön«, sagte er. »Gehen wir wieder nach oben. Die Zeiten ändern sich. Ich kann mich erinnern, dass verlassene Forts nichts als Ratten in ihren Kellergewölben beherbergt haben.« »Ja«, bestätigte Flint. »Wir sollten vielleicht das nächste Mal ein bisschen Gift hier unten verstreuen.« Lachend verließen die Ranger den Keller. In der Dunkelheit unter ihnen regte sich etwas im Schlaf. Hammer, Wilde und Vogelscheuchen-Jack traten in den Vorraum und zogen die Tür hinter sich zu, die das Rauschen des Regens zu einem Flüstern dämpfte. Die drei schüttelten die tropfnassen Haare aus und sahen sich im trüben Schein der Laterne Hammers um. Mit Hilfe von Feuerstein und Stahl entzündete Wilde eine Fackel, die er aus einer der Wandhalterungen genommen hatte. Die flackernde Flamme warf gelbes Licht in den Raum und ließ lange Schatten springen. Die Männer sahen sich nun von vier Pferden beäugt, nahmen Notiz von den vielen Blutspuren und entdeckten die vier Seilschlingen, die von einem Deckenbalken herabhingen. »Was ist denn hier passiert?«, fragte Wilde beunruhigt. »Hammer, davon hast du nichts gesagt.« »Als ich das Gold abgeliefert habe, war noch alles in bester Ordnung«, antwortete Hammer. »Nachdem nichts mehr von hier zu hören war, musste man zwar damit rechnen, dass sich was Schlimmes zugetragen hat, aber damit… Sei's drum, das tut jetzt nichts zur Sache. Was passiert ist, ist passiert, dieses Blut hier ist längst getrocknet. Kümmern wir uns nicht weiter drum. Lasst uns das Gold holen und wieder verschwinden.« Wilde war merklich verunsichert. »Ich weiß nicht, Hammer. So etwas ist mir noch nie untergekommen.« »Na und?«, entgegnete Hammer. »Was hast du dir gedacht? Dass wir hier mir nichts, dir nichts hereinspazieren und uns die Taschen voll stopfen? Wer reich werden will, muss bereit sein, dafür auch ein paar Risiken auf sich zu nehmen.« »Berechenbare Risiken, einverstanden. Aber das hier ist was anderes.« »Dir werden doch jetzt nicht die Nerven durchgehen, Edmond«, sagte Hammer. »Das will ich dir nicht raten.« Wilde hielt dem Blick von Hammer eine Weile lang stand; dann fingen seine Augen zu flackern an und er schaute weg. »Hab ich dich je hängen lassen?« »Nein, Edmond. Noch nie. Du weißt nämlich, dass ich dich in einem solchen Fall umbringen würde. Also, mein Freund, mach dir keine Gedanken darüber, was hier passiert sein könnte. Denk lieber daran, was passieren wird, wenn du nicht sofort aufhörst, mir die Zeit zu stehlen. Los, ab in den Keller. Du gehst voran.« Wilde blickte zur Tür, auf die Hammer mit dem Finger zeigte. Auf der Holzfüllung prangte ein großer, dunkler Fleck, und das eiserne Schloss war, wie es schien, von der anderen Seite aufgebrochen worden. Ohne seinen Blick von der Tür abzuwenden, reichte er Jack seine Fackel und setzte sich langsam in Bewegung. Er zog sein Schwert, zögerte einen Augenblick lang, riss dann die Tür auf und sprang einen Schritt zurück, das Schwert vor sich ausgestreckt. Er starrte in einen dunklen, leeren Korridor mit blutverschmierten Wänden. Da Wilde anscheinend nicht weiter wollte, trat Jack vor und gab ihm die Fackel zurück. Wilde nahm sie entgegen, dankte mit einem knappen Kopfnicken und machte sich auf den Weg durch den Korridor. Jack folgte. Zum Schluss kam Hammer, der in der einen Hand seine Laterne, in der anderen das kurze Schwert gepackt hielt. Das Heft des geschulterten Langschwertes, das über die Schulter hinausragte, schimmerte matt im Dunkeln. Schaurige Schatten begleiteten die drei auf dem Weg tiefer ins Fort. In der Stille tönten ihre Schritte überlaut und die Luft wurde immer kälter. Vogelscheuchen-Jack schaute befangen in die Runde und wünschte sich in seinen Wald zurück. Seit er das Fort betreten hatte, schienen seine Instinkte gehemmt und verwirrt zu sein; trotzdem spürte er genau, dass hier vor nicht allzu langer Zeit etwas Furchtbares geschehen war. Vor allem irritierten ihn die Blutflecken. Wo waren die Leiber geblieben, die all dieses Blut verschüttet hatten? Waren sie womöglich gefressen worden? Jack runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sich hinter geschlossenen Mauern aufzuhalten bekam ihm nicht gut. Er hasste es, sich in umbauten Räumen zu befinden, weil er sich dann wie eingesperrt und in einer Falle wähnte. Aus diesem Grund hatte er auch vor all den Jahren sein Dorf verlassen und sein Zuhause im Wald eingerichtet. Stein-und Holzhäuser waren tot, der Wald dagegen voller Leben, und zwischen hohen Bäumen fühlte er sich freier als unter Menschen. Wenn er ab und zu seine Familie besuchte, schlief er immer draußen vor der Tür und blieb nicht lange. Die Grenzfeste machte ihm in vielerlei Hinsicht Sorge. Zum einen fand er die dicken Mauern bedrückend und einengend. Die Decken hingen für seinen Geschmack viel zu niedrig, sodass er immer unwillkürlich den Kopf einziehen wollte. Bei seinem ersten Besuch war ihm dieser Umstand kaum aufgefallen, weil ihn sein Auftrag so sehr in Anspruch genommen hatte, dass ihm keine Zeit zum Grübeln geblieben war. Jetzt aber konnte er kaum an etwas anderes denken. Zum anderen war da diese Ahnung… die Ahnung einer schrecklichen Gefahr, die ganz in der Nähe lauerte. Obwohl seine Instinkte eingetrübt waren, spürte Jack diese Gefahr mit der gleichen Sicherheit, die ihm auch eigen war, wenn es darum ging, im Wald versteckte Fährten ausfindig zu machen oder das Wetter vorherzusagen. Er versuchte zu ergründen, wodurch er sich bedroht fühlte, konnte aber keine schlüssige Antwort finden. Was es auch sein mochte, es war sehr alt und ganz und gar tödlich. Und sie rückten ihm immer näher. Vogelscheuchen-Jack wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und wünschte sich an einen anderen Ort. Irgendwohin. Wilde führte um eine Kurve herum und blieb unversehens stehen. Jack und Hammer eilten herbei und stellten sich neben ihn. Vor ihnen lag ein Korridor, der über und über mit einem dicken, gräulichen Gespinst verhängt war, das an den Rändern ein wenig ausfranste, aber zur Mitte hin immer dichter wurde und sich schließlich zu einer festen, pulsierenden Masse zusammenballte. Es war nicht zu erkennen, wie tief sich das Gespinst in den Korridor hinein erstreckte, aber es schien doch einige Schritt weit zu reichen. Und es bewegten sich Schatten darin, winzig kleine, aber auch größere dunkle Schemen, die blitzschnell auftauchten und wieder verschwanden. Jack glaubte ein ums andere Mal, glühend rote Augen gesehen zu haben. Witternd hielt er seine Nase in die Luft, unter die sich ein fauler Verwesungsgeruch mischte. »Bist du auch schon an dieser Stelle gewesen?«, fragte Hammer. »Ich glaube ja«, antwortete Jack. »Aber… davon hab ich nichts gesehen.« »Es hängt hier offenbar schon eine Weile rum«, bemerkte Hammer. »Daran muss eine Spinne lange weben.« »Von einer Spinne kommt das nicht«, erklärte Jack. »Spinnennetze haben Muster, und das hier hat keines, jedenfalls kein erkennbares.« »Vielleicht rührt es von einer besonders seltenen Spinne her«, meinte Hammer. »Ob die für das Blut gesorgt hat?«, fragte Wilde. »Woher soll ich das wissen?«, blaffte Hammer. »Möglich, ja, aber ich schätze, eher nicht. Die Opfer würden doch noch hier herumliegen, wenn sie von einer Spinne angegriffen worden wären, oder?« »Nicht unbedingt«, entgegnete Jack. »Manche Spinnen schleppen ihre Beute in ihr Netz und wickeln sie zu einem Kokon ein, entweder um sie darin zu lagern und später aufzufressen oder um die eigenen Eier hineinzulegen. Die geschlüpften Larven mästen sich dann an dem Opfer.« Die drei Ganoven starrten auf das Netz, um festzustellen, ob womöglich Menschenreste darin zu erkennen waren. »Hier kommen wir nicht durch«, sagte Wilde. »Wir müssen uns einen anderen Weg suchen.« »Nein«, widersprach Hammer. »In den Keller führt nur dieser eine Weg. Wir müssen ihn uns freischlagen. Mit dem Schwert. Oder das Zeugs abfackeln…« Von Hammer dazu aufgefordert, trat Wilde vorsichtig bis auf Armeslänge an das Netz heran, und hielt seine Fackel in das Gespinst. Es rauchte und rußte, blieb aber sonst unbeschadet. Wilde zog die Fackel zurück und sah sich Hilfe suchend nach Hammer um. »Na schön«, knurrte der. »Dann bleibt uns nur die brachiale Methode. Wilde, du nimmst dir die linke Seite vor, ich die rechte. Jack hält die Laterne und passt auf, dass uns keine Spinnen überraschen.« Gesagt, getan. Jack nahm die Laterne entgegen, worauf Hammer mit erhobenem Schwert nach vorn trat und auf die Ausläufer des dichten Gewebes einschlug. Die Fasern gaben zwar nach und zerrissen, blieben aber an der Klinge kleben. Hammer musste beidhändig zupacken und sich mächtig ins Zeug legen, um das Schwert wieder frei zu ziehen. Mit spöttischem Grinsen steckte Wilde seine Fackel in eine der Halterungen an der Wand. Derweil holte Hammer zu einem neuen Schwerthieb aus, hielt aber plötzlich inne, als ihm auffiel, dass die zertrennten Stränge langsam wieder zusammenwuchsen. Wilde schreckte zurück. Jack nagte an der Unterlippe. Ihm wurde zunehmend unwohl in seiner Haut. Tief im Innern des Netzes rührte sich etwas. In der Mitte des verworrenen Gespinstes bewegte sich eine dunkle große Gestalt. Mit Schrecken sahen die drei den Schatten wie aus dichtem Nebel langsam hervorsteigen und auf sie zukommen. Jack und Wilde wichen ein paar Schritte zurück, doch Hammer blieb, wo er war, und hob sein Schwert. Je weiter sich der Schatten auf den Rand des Netzes zubewegte, desto deutlicher wurde, dass es sich um eine Menschengestalt handelte. Allerdings war sie ungewöhnlich dünn und knochig. Sie streckte eine Hand nach Hammer aus und griff durch das klebrige, milchig weiße Gespinst, das sich vor ihr teilte. Die Finger waren nicht mehr als gelbliche Knochen, verkrustet mit getrocknetem Blut und faulenden Gewebefetzen. Das Gespinst dehnte sich wie Gummi, zerriss und entließ schließlich dieses dürre Wesen, das sich vor die drei Ganoven stellte und unablässig grinste. Es war das lebendige Skelett eines Menschen, der schon vor langer Zeit gestorben zu sein schien. Hautreste und verwesende Fleischfasern hingen von den Knochen, die mit einer dicken Blutkruste überzogen waren. Dass dieses scheußliche Gerippe überhaupt zusammenhielt, verdankte es offenbar dem Spinngewebe, das mit seinen weiß schimmernden Strängen Muskeln und Sehnen ersetzte und sich wie Schlangen um die toten Knochen wand. Ruhig und gelassen ließ das Wesen seinen Blick von dem einen Ganoven zum anderen gleiten. Trotz leerer Augenhöhlen schien es sehen zu können, und es hörte nicht auf zu grinsen. »Ist es nun tot oder lebendig?«, fragte Jack. »Tot«, antwortete Hammer. »So oder so.« Er trat einen Schritt vor und schlug mit dem Schwert nach dem Hals des Scheusals - schnell, wuchtig und zielsicher. Gewöhnlich hätte dieser Hieb unweigerlich zur Enthauptung geführt. Doch mit unglaublicher Schnelligkeit hob das Wesen einen Arm und wehrte sich. Die Klinge glitt von den Knochen ab, ohne Schaden anzurichten. Hammer fackelte nicht lange. Kaum hatte er sein Gleichgewicht zurückgefunden, schlug er gezielt auf den erhobenen Knochenarm, auf die gesponnenen Stränge, die die Glieder zusammenhielten. Aber kaum waren diese Fasern zerschnitten, wuchsen sie auch schon wieder zusammen, so schnell, als wären sie gar nicht erst getrennt gewesen. Hammer erstarrte vor Entsetzen. Im letzten Augenblick konnte er zur Seite wegtauchen, als der Knochenmann mit der Faust nach ihm schlug und statt seiner die Wand traf, so wuchtig, dass etliche kleinere Knöchel knackten. Aber er kannte keine Schmerzen und richtete sein unablässiges Grinsen auf die drei Ganoven. Weil schon so lange tot, kannte er auch kein Mitleid oder Erbarmen mehr. »Was zum Teufel ist das für einer?«, reif Hammer. »Ist dir so was schon mal über den Weg gelaufen, Jack?« »Nein«, antwortete Vogelscheuchen-Jack. »Aus dem Wald stammt's jedenfalls nicht.« »Da irrst du, mein Lieber«, entgegnete Wilde. »Ich hab ein solches Exemplar schon mal gesehen, im Bin-sicht, um genau zu sein, unmittelbar an der Grenze zum Finsterholz. Das Gespinst selbst ist ein Lebewesen, das seine Opfer verschlingt, indem es sie einwickelt. Und wenn es sie aufgefressen hat, setzt es die Knochen wieder zusammen und schickt sie hinaus in die Welt, um Beute zu machen. Ganz schön schlau, dieses Netz. Und kaum kaputt zu kriegen.« Hammer warf einen kurzen Blick auf Wilde. »Was hattest du an einem so gefährlichen Ort wie dem Bin-sicht überhaupt zu suchen?« Wilde warf sich in die Brust. »Ich bin ein Held gewesen. Vielleicht erinnerst du dich.« »Das ist ziemlich lange her«, sagte Hammer. Plötzlich sprang das Skelett auf sie zu und die drei stoben auseinander. Wilde zog einen Pfeil aus dem Köcher und spannte den Bogen. Das Scheusal wirbelte herum, wandte sich ihm zu, nach wie vor grinsend. Wilde brauchte nicht lange zum Zielen und ließ den Pfeil fliegen. Er durchschlug den Schädel und warf das Skelett so wuchtig zurück, dass es krachend vor eine geschlossene Tür prallte. In schneller Folge schickte Wilde drei Pfeile hinterher, um mit ihnen den Schädel an der Holztür festzunageln, was auch gelang. Der Knochenmann versuchte vergeblieh, sich wieder loszureißen; die Pfeile steckten tief und fest. Wilde setzte seine alte hochmütige Miene auf »Ich bin so gut wie eh und je, Hammer; vergiss das nicht.« Der Knochenmann erschlaffte und hing leblos an der Tür. Die dicken Spinnfäden, die ihn zusammenhielten, lösten sich von den Gliedern, fielen zu Boden und schlängelten sich mit verblüffender Geschwindigkeit zurück ins große Gespinst. Ohne Halt tropften nun die Knochen, einer nach dem anderen, zu Boden, bis nur noch der Schädel an den Pfeilen hing. Zum Schluss fiel auch die Kinnlade und nahm das starre Grinsen mit sich. Jack wollte eine Bemerkung machen, doch es verschlug ihm die Sprache, als er sah, dass die Mitte des weißlichen Gespinsts wieder in Bewegung geriet. Die dicken Fasern und Stränge dehnten und verdrehten sich, bis schließlich das gesamte Knäuel von heftigen Zuckungen geschüttelt wurde. Wilde legte einen Pfeil an die Bogensehne und ließ ihn in die pulsierende Masse schnellen. Das Geschoss verschwand darin, spurlos. Ein Strang aus grauen Fasern wuchs nun aus dem Knäuel und griff wie ein Tentakel nach Jack, der, um ihm auszuweichen, zur Seite springen musste. Hammer schlug beherzt zu und durchtrennte den Tentakel mit dem Schwert. Kaum war das abgeschnittene Ende zu Boden gefallen, wuchs er zur alten Länge nach. Gleichzeitig bildeten sich nun weitere Tentakel, die tastend umherwehten. Jack schreckte zurück. »Wir müssen hier raus, Hammer! Dagegen kommen wir nicht an.« »Er hat Recht«, stimmte Wilde zu. »Wir haben keine Chance.« »Und ob wir die haben!«, rief Hammer. Er steckte sein Schwert in die Scheide am Gürtel und griff stattdessen nach dem Langschwert. Das mit Lederstreifen umwickelte Heft schien ihm geradezu in die Hand zu springen, und im Nu glitt die lange Klinge aus der Scheide. Über sechs Fuß maß das Schwert, und seine Parierstange war so lang wie Hammers Unterarm. Obwohl sie äußerst schwer sein musste, führte Hammer seine Waffe mit erstaunlicher Leichtigkeit. Der Stahl schimmerte gelblich, was so unansehnlich war, dass sich Jack vor Abscheu schüttelte. Trotz seiner verminderten Instinkte konnte er deutlich die Gewalt spüren, die von dieser Waffe ausging. In der langen Klinge tobte wüste Zauberkraft, die sich nur mittels uralter Formeln halbwegs bändigen ließ. Jack ahnte, dass hinter dieser Kraft nur böse Mächte stecken konnten. Er glaubte auch zu spüren, dass dieses Schwert womöglich lebte und beseelt war. Hammer holte aus, setzte einen Schritt nach vorn und hieb mit der Klinge in die Mitte des Gespinsts. Weiße Fasern schwirrten umeinander, als sich das zitternde Knäuel zurückzuziehen versuchte, weg von der mächtigen Waffe. Doch die bohrte sich tief ins Herz des Geschlinges und zog Hammer hinter sich her. Und was mit der glühenden Klinge unmittelbar in Berührung kam, löste sich zischend auf. Das Gespinst schwelte und bebte, warf lange Arme und Fäden in die Luft, als wollte es sich davonhangeln. Langsam schritt Hammer näher. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen - wegen des fürchterlichen Gestanks aus dem versengten Gewebe. Das Schwert brannte mit bitter gelber Flamme. Immer wieder stach er damit zu und das Netz zerfiel in verkohlte Klumpen. Aus dem milchig weißen Herz kamen dunkle Gestalten torkelnd zum Vorschein, Gliederpuppen, zusammengesetzt aus Knochen und Horror, untote Geschöpfe des Netzes, geführt an dessen Fäden. Sie warfen sich Hammer entgegen, langten mit ihren Knochenhänden und gelben Klauen nach ihm aus, mussten aber doch zerbrechen und vergehen unter dem Streich der Klinge, die sie aus der Sklaverei des Gespinstes befreite. Der Korridor war knapp drei Meter hoch und fast ebenso breit. Das Gespinst hatte ihn auf eine Länge von über fünf Schritt ausgefüllt. Als Hammer das Schwert endlich ruhen ließ und sich umschaute, waren nur noch ein paar rußschwarze Fäden übrig geblieben, die von der Decke und den Wänden herabhingen. Auf den Steinplatten am Boden lag ein Wust alter Knochen, die nun endlich ihren Frieden hatten. Hammer betrachtete das Schwert. Die Klinge leuchtete ebenso gelblich wie die Flammen, die von einem Scheiterhaufen aufstiegen. »Verdammter Narr!«, zischte Wilde. »Das ist der Wolfsfluch, stimmt's?« »Ja«, antwortete Hammer. »Das ist er.« Er warf das Langschwert zurück in die Scheide, mit Nachdruck, denn es schien sich dagegen zu sträuben. Jack warf einen prüfenden Blick auf die Kerze in seiner Laterne, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte. Dass die Kerze noch brannte, war wie ein Wunder. Wilde zog die Fackel aus der Halterung und wandte sich wieder an Hammer. »Ich dachte, das Höllenschwert sei während des Dämonenkrieges verloren gegangen«, sagte er. »Das war es auch. Und ich hab's gefunden.« »Dann halt dich fern von mir, Hammer. Komm mir nicht zu nahe.« »Was soll das heißen, Wilde? Hast du Angst?« »Vor diesem Ding? O ja. Und das hättest du auch, wenn du diesem verfluchten Schwert nicht schon verfallen wärst.« Jack hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, und es kümmerte ihn auch nicht. Er war nur froh, dass ihm dieses Gespinst und seine scheußlichen Geschöpfe nicht mehr gefährlich werden konnten. Aber es gab noch weitere Gefahren, und obwohl auch er das Langschwert ziemlich ungeheuerlich fand, war Jack vor allem darauf aus, das Gold zu finden und möglichst schnell wieder zu verschwinden, ehe die Ranger ihnen auf die Schliche kamen. Als er diesen Gedanken aussprach, nickten die anderen beifällig. »Du hast Recht. Weil du dumm genug warst, dich den Rangern zu zeigen, werden sie jetzt wahrscheinlich auf der Hut sein, und wir können uns nicht erlauben, entdeckt zu werden. Wenn sie irgendwo in der Nähe sind, werden sie uns bestimmt gehört haben. Am besten, wir verziehen uns an einen sicheren Ort und halten uns für eine Stunde oder so bedeckt, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.« »Bist du verrückt? Ich bleib an diesem gottverlassenen Ort keine Minute länger als nötig«, rief Wilde mit Blick auf Hammer und ballte die Faust um seinen Bogen. »Du hast doch das Gespinst gesehen. Angeblich sind diese Scheusale ausgestorben, seit der Bin-sicht im Dämonenkrieg vernichtet worden ist. Wenn es hier im Fort noch gibt, was eigentlich nie hätte existieren dürfen, sollten wir zusehen, möglichst schnell wieder weg zu sein. Wer weiß, was uns hier sonst noch für Scheusale über den Weg laufen.« »Du enttäuschst mich, Edmond«, sagte Hammer. »Im Ernst. Sieh dich bloß einmal an. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als du noch Mitglied der königlichen Garde warst. Du hast den aufrührerischen Schwertmeister Sir Guillain erschlagen und dem König in der entscheidenden Schlacht des Dämonenkrieges zur Seite gestanden. Und was ist aus dir geworden? Ein Schlappschwanz, der sich vor Angst in die Hose macht.« »Mein Gedächtnis arbeitet auch noch ganz gut«, entgegnete Wilde. »Damals war ich ein junger Spund, der geglaubt hat, was ihm zum Thema Ehre und Pflicht vorgelogen worden ist. So naiv bin ich nicht mehr. Ich riskier mein Leben nicht mehr für andere.« »Du wirst tun, was ich von dir verlange«, flüsterte Hammer. »Nicht wahr?« Die beiden fixierten einander mit den Augen. Wilde schaute als Erster zur Seite. »Na gut, halten wir uns für eine Stunde bedeckt. Obwohl mir die Sache nicht gefällt.« »Sie braucht dir ja auch nicht zu gefallen«, sagte Hammer. Er wandte sich von Wilde ab und ging den Korridor entlang. Der Bogenschütze schaute ihm mit frostiger Miene nach und setzte sich dann selbst in Bewegung. Jack folgte zum Schluss. Er hatte von Wildes heldenhafter Vergangenheit nichts gewusst. Von den fünftausend Männern und Frauen, die in der großen letzten Schlacht des Dämonenkrieges gekämpft hatten, waren am Ende nicht mehr als zweihundert am Leben geblieben, nämlich die Tapfersten der Tapferen. Jack mochte kaum glauben, dass Edmond Wilde dazuzählte. Er kannte den Bogenschützen nur als Banditen und Mörder, der seinen Opfern nach Möglichkeit aus dem Hinterhalt auflauerte, plündernd und raubend durch die Gegend zog und sich für Geld zu jeder Schandtat überreden ließ. Jack schüttelte den Kopf. Aus Menschen war er noch nie schlau geworden. Hammer warf einen Blick hinter jede Tür, an der sie vorbeikamen. Die Dritte führte in einen kleinen Anbau. Hammer sah sich darin um und nickte zufrieden. »Hier können wir bleiben. Keine Fenster und nur diese eine Tür. Gut zu verteidigen und unauffällig. Kommt, ruht euch aus. Eine Stunde. Mal sehen, was sich so tut.« Er winkte seine Kumpane zu sich, zog die Tür zu und stemmte einen Stuhl unter die Klinke. Noch während sich Jack und Wilde in der Kammer umschauten, nahm Hammer den einzig übrig gebliebenen Stuhl in Beschlag, ließ sich wohlig seufzend darauf nieder und streckte die Beine aus. Wilde warf ihm einen verächtlichen Blick zu und rammte wütend seine Fackel in eine Wandhalterung. Dann setzte er sich in eine Ecke, aus der sich die Tür im Auge behalten ließ, und legte den Bogen in den Schoß. Jack nahm in der Ecke gegenüber Platz und musste tief Luft holen, als er unter der feuchten Hose den kalten Steinboden spürte. Er setzte die Laterne neben sich ab und sah sich um. Die Kammer war dunkel, muffig und für sein Empfinden viel zu eng. Zu allem Überfluss hatte er sich erkältet. Manchmal kam es wirklich knüppeldick. Vergeblich suchte er nach einer halbwegs bequemen Sitzhaltung, in der er sich hätte entspannen können. Dass er das letzte Mal auf weichem Moos und unter wärmender Sommersonne gelagert hatte, schien eine Ewigkeit her zu sein. Er schniefte betrübt und schloss die Augen. Er war müde und ein kurzes Nickerchen würde ihm gut tun. Eine kurze Ruhepause nur. Hammer hockte, der Tür zugewandt, auf seinem Stuhl. Er war eingeschlafen, das Kinn hing ihm auf der Brust. Das Langschwert steckte in der Scheide, wartend, aufmerksam. Duncan MacNeil irrte durch das Labyrinth aus Korridoren und Durchgängen. Flint und der Tänzer folgten in kurzem Abstand, Constance als Letzte. MacNeil spähte ins Dunkle. Er war fest davon überzeugt, Kampfgeräusche gehört zu haben, doch es deutete rein gar nichts daraufhin, dass sich außer den vieren sonst noch jemand im Fort aufhielt. Draußen stürmte noch immer das Ungewitter. Der Regen prasselte fast so laut wie Donner, und so grell leuchteten die Blitze durch die' Scharten der Außenmauer, dass die Ranger, geblendet davon, für eine Weile nichts mehr sehen konnten. MacNeil trug seine Laterne vor sich her und gab Acht, dass er nicht irgendwo aneckte. Als er in einen Nebengang einbog, entdeckte er die Überreste des riesigen Gespinstes und blieb verwundert stehen. Die anderen gesellten sich zu ihm. Faulendes Gewebe hing in Fetzen von Decken und Wänden und ein übler Gestank machte sich breit. Auf dem Boden häuften sich gelbliche Knochen, blutverkrustet. MacNeil sah auf Anhieb, dass es sich um die Knochen von Menschen handelte. »Was ist denn hier passiert?«, hauchte Flint. Keiner antwortete ihr. MacNeil kniete sich hin und untersuchte die Steinplatten. Die wenigen Spuren, die er ausmachte, boten kaum Aufschluss. Die Knochen und Reste des Gespinstes wagte er nicht zu berühren. Er stand wieder auf und sah sich mit sorgenvoller Miene um. Rätselhaft, dachte er. Vor knapp drei Stunden hatte er diesen Korridor schon einmal passiert, und da war nichts von alledem zu sehen gewesen. MacNeil schüttelte den Kopf. Aber vor einem Rätsel zu stehen war ihm ja nicht neu. Er wandte sich an Constance. »Kannst du sehen, was hier vorgefallen ist?« Constance krauste die Stirn und schloss die Augen. »Es waren drei Männer hier. Banditen. Einer von ihnen ist Vogelscheuchen-Jack. Der andere gehörte zu denen, die das Gold hierher brachten. Sie mussten sich zur Wehr setzen, gegen einen Gegner, den ich nicht erkennen kann.« »Der hat wahrscheinlich dieses Netz gesponnen«, sagte MacNeil. »Siehst du noch etwas?« Constance kniff die Brauen zusammen und konzentrierte sich. »Da war noch etwas zugegen«, sagte sie leise. »Nicht nur die Banditen und das Netz… Duncan, sie haben Unheil mit ins Fort gebracht. Etwas Altes, sehr Mächtiges.« Sie erschauderte und schlug die Augen auf. »Sonst sehe ich nichts. Die Banditen sind verschwunden. Ich könnte ihnen auf die Spur kommen, aber dazu müsste ich einen Zauber beschwören, der mich für mehrere Stunden schachmatt setzte.« »Das lohnt nicht«, sagte MacNeil. »Drei Banditen können uns nicht sehr gefährlich werden, gleichgültig was sie mit sich ins Fort gebracht haben. Wir werden sie aufstöbern, suchen Raum um Raum nach ihnen ab. Was allerdings eine Weile dauern könnte. Sei's drum, wir hätten heute Nacht ohnehin nicht viel geschlafen.« Constance schaute ihn an, sagte aber nichts. Die Banditen waren in Begleitung von etwas sehr Bösem, das sie alle bedrohte, aber sie konnte sich mit ihrer Hellsicht kein klares Bild davon machen. Und darum mochte sie MacNeil nicht widersprechen. Er würde ihre Bedenken nicht würdigen. Salamanders Bedenken hätte er sehr wohl ernst genommen… »Seltsamer Zufall«, sagte Flint. »Was?«, fragte MacNeil. »Wir haben in der Höhle unterm Keller gegen Monstren angekämpft, und es scheint, als wären diese Ganoven hier im Korridor ebenfalls böse überrascht worden. Und wir haben alle von Monstren geträumt. Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen.« »Inwiefern?« Flint zuckte mit den Achseln. »Wer weiß ?« Die Ranger standen eine Weile nachdenklich beieinander. Plötzlich hatte MacNeil einen Einfall. »Ich weiß nicht, wie ihr denkt, aber mir scheint, die Banditen werden, was sie auch suchen, im Keller zu finden hoffen. Schließlich sollte da auch das Gold lagern«, sagte MacNeil und sah in die Runde. »Und?«, fragte Constance. »Ich schlage vor, wir steigen in den Keller zurück und warten dort auf sie.« Flint und der Tänzer tauschten skeptische Blicke. Constance sah zu Boden. Und MacNeil schmunzelte plötzlich. »Ist doch viel besser, als alle Räume durchzugehen, oder?« Nach längerer Pause meldete sich Flint wieder zu Wort. »Warum machst du uns Vorschläge. Du bist doch unser Anführer und kannst bestimmen, was zu tun ist. Wir gehorchen. So war es schließlich bislang immer.« »Aber jetzt ist alles anders«, entgegnete MacNeil. »Wir haben's hier nicht mit einem gewöhnlichen Fall zu tun und sind außerordentlichen Gefahren ausgesetzt. Ich habe nicht das Recht, von euch zu verlangen, dass ihr mir unter solchen Umständen Folge leistet. Ihr habt die Möglichkeit, nein zu sagen.« Flint schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du hättest Salamanders Tod mittlerweile verwunden. Es war nicht deine Schuld. Du konntest schließlich nicht ahnen, dass ihr in einen Hinterhalt geraten würdet. Nun ja, Salamander hat eine Gefahr an diesem Ort vorausgesehen, konnte aber nichts Genaues ausmachen. Sie hat ihrem Schwert mehr vertraut als ihrer Magie, und das war der Fehler, der ihr zum Verhängnis wurde. Giles und ich sind mit deinen Entscheidungen einverstanden. Das war schon immer so. Du willst also in den Keller zurück?« »Ja«, antwortete Mac Neil. »Dann kommen wir mit, der Tänzer und ich. Wir sind schon seit acht Jahren zusammen und haben nicht vor, den Zug zu wechseln. Wo du hingehst, gehen auch wir. Nicht wahr, Giles?« »So ist es«, bestätigte der Tänzer. MacNeil wandte sich Constance zu. Sie lächelte und sagte: »Ich komme natürlich auch mit. Was würdest du ohne mich anfangen? Ich gehöre schließlich auch mit zur Truppe.« »Dann lasst uns gehen«, sagte MacNeil. »Kommen wir den Banditen zuvor.« Er drehte sich um und ging voran, damit die anderen nicht sehen konnten, wie sehr ihn die Loyalität seiner Untergebenen anrührte. Flint und der Tänzer grinsten sich zu und folgten. Constance bildete erneut das Schlusslicht und summte vor sich hin. »Was meinst du? Ob wir wieder auf Monstren treffen?«, fragte Flint. »Sehr wahrscheinlich.« »Gut«, sagte Flint. »Du kannst ein zusätzliches Training gebrauchen. Bist in letzter Zeit ein bisschen langsam und träge geworden.« »Stimmt, meine besten Jahre sind wohl schon vorbei.« Sie kicherten leise. Auch Constance, die hinter ihnen ging, schmunzelte. Ihr Blick aber war weit entrückt. Sie hatte ihre Hellsicht auf den Keller gerichtet und sah eine Gelegenheit, MacNeil ihre großen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er würde noch stolz auf sie sein können. Erkannte und unerkannte Gefahren Hammer und Wilde schliefen schon. Vom Gewitter war kaum etwas zu hören, und in der kleinen Kammer war es warm, trocken und still. Jack lehnte sich an das raue Gemäuer im Rücken und unterdrückte ein Gähnen. Ihm war bewusst, dass er nicht auch noch einschlafen durfte, aber der Tag hatte ihn müde gemacht und die Augen gingen von selbst zu. Wie eine schwere Decke breitete sich die Schläfrigkeit über ihn aus. Die Fackel knisterte leise an der Wand und verströmte warmes goldgelbes Licht. Jack reckte sich und entspannte die müden Muskeln. Seit er die Grenzfeste betreten hatte, fühlte er sich zum ersten Mal sicher und wohl. Wäre er weniger schläfrig gewesen, hätte er sich gerade darüber Sorgen gemacht. Doch der warnende Gedanke streifte ihn nur flüchtig und störte nicht weiter. Hammer murmelte unverständliche Laute im Schlaf vor sich hin und rutschte auf dem Stuhl ein Stück nach vorn. Wilde atmete geräuschvoll durch den Mund. Jack hatte die Augen geschlossen und das Kinn sank ihm auf die Brust. Alle drei schliefen tief und fest. Und träumten. Jonathon Hammer lief durch den Wald, das Schwert in der Hand. Laut klatschten die Stiefelsohlen auf dem ausgetrampelten Pfad, und obwohl er völlig außer Atem war und ihm die Beine wehtaten, wollte er sich keine Pause gönnen. Er wusste nicht, wie lange er schon rannte, und ahnte, dass er es nicht mehr weit schaffte. Er sah sich nervös um und zwinkerte den Schweiß aus den Augen. Die hohen Bäume schienen über ihre weiten Wipfel zu einem einzigen grünen Dach aus Licht und Schatten miteinander verwachsen zu sein. Endlich blieb er taumelnd stehen, schnappte nach Luft und lehnte sich erschöpft an einen breiten Stamm. Von einem halben Dutzend Gardisten gejagt zu werden war schlimm genug, aber dass er in voller Montur samt Kettenhemd laufen musste, war der Strafe zu viel. Er dachte daran, das Kettenhemd auszuziehen und wegzuwerfen, hatte dafür aber keine Zeit. Sein Vorsprung vor den verfluchten Soldaten betrug nur wenige Minuten. Nur gut, dass er sich im Wald auskannte und zu seiner Flucht nur enge, zugewachsene Pfade wählte, sodass man ihm nicht zu Pferde nachstellen konnte. Aber die Verfolger abzuschütteln hatte er nicht vermocht. Sie schienen diesen Teil des Waldes ebenso gut zu kennen wie er selbst.  Hammer schüttelte den Kopf und wartete ungeduldig darauf, wieder zu Atem zu kommen. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht und dehnte die schmerzenden Muskeln aus Angst, einen Krampf zu erleiden, denn der würde ihm jetzt das Leben kosten. Obwohl er noch außer Atem war, hielt er einen Moment lang die Luft an, um zu lauschen. Zu hören waren nur die üblichen Laute des Waldes, der Wind in den Zweigen, Vogelgezwitscher, Tiere. Hammer schaute sich um, unschlüssig darüber, was er nun tun sollte. Zuerst hatte alles denkbar einfach ausgesehen. Als die Kommandanten der Grenzpatrouille, die anfangs noch sehr gewissenhaft ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen waren, allmählich nachlässiger wurden, sah Hammer die Zeit gekommen, an seinen eigenen Vorteil zu denken. Und so rief er eine kleine Pokerrunde ins Leben, die sich auch recht gut anließ. Doch dann warf ihm dieser fette Dummkopf namens Norris vor, ein Falschspieler zu sein. Und ohne dass ihm bewusst war, was er da eigentlich tat, zog Hammer sein Schwert und streckte Norris nieder. Daraufhin musste er Reißaus nehmen. Hätte er doch bis zur nächsten Nachtschicht gewartet und dem Miststück in aller Heimlichkeit ein Messer in den Rücken gerammt. Jetzt war er wieder einmal gezwungen, seinen Namen zu wechseln. Nur gut, dass er sich als Söldner einfach nur Hammer genannt hatte. Hammer war seit eh und je überzeugt davon, dass ihm eine große Zukunft bevorstand. Er hatte sich schon immer für etwas Besonderes gehalten und wähnte sich anderen weit überlegen. Auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung hatte er schon alles Mögliche ausprobiert, sich aber nur als Soldat auszeichnen können - zuerst als Söldner, dann als Feldwebel und schließlich als Gardist. Gegen wen er ins Feld zog und warum, war ihm einerlei, Hauptsache, der Sold stimmte. Er stählte seine Kampfkraft auf dem Exerzierplatz und in der Schlacht und wartete auf die große Chance, unter Beweis stellen zu können, wofür er sich prädestiniert fühlte, nämlich ein Befehlshaber zu sein. In ihm steckte Großes. Das konnte er spüren. Es bedurfte nur einer geeigneten Gelegenheit, dies auch zu zeigen. Aber einstweilen galt es, die eigene Haut zu retten. Er wüsste selbst nicht genau, warum, aber seit dem frühen Morgengrauen waren ihm Gardisten auf den Fersen. Vielleicht hatte er seine Spuren nicht gründlich genug verwischt. Mehr als einmal waren ihm die Verfolger so nahe gekommen, dass er sie in der Ferne schon erkennen konnte, und dann hatte er all seine Schläue und Ortskenntnis aufwenden müssen, um sie wieder abzuschütteln. Sechs Gardisten, bewaffnet mit Schwertern und Äxten. Er konnte wohl froh sein, dass er es nicht auch noch mit Bogenschützen zu tun hatte. Plötzlich waren Schritte zu hören. Er blieb stehen, fluchte leise vor sich hin und griff nach dem Schwert. Die Gardisten waren näher als angenommen. Er stieß sich von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte, und hastete weiter, den ausgetretenen Pfad entlang. Er versuchte zu laufen, was ihm aber nicht gelingen wollte, so müde und erschöpft war er. Als echter Kämpfer kannte Hammer seine körperlichen Grenzen und wusste, dass er sie fast erreicht hatte. Er sah sich um, wich vom Pfad ab und tauchte im Dickicht unter. Den Pfad zu verlassen war riskant, aber die einzige Chance, die ihm blieb. Er kam jetzt nur noch sehr langsam voran und musste sich durch dorniges Buschwerk schlagen, wobei ihm zum Glück das Kettenhemd vor größeren Verletzungen schützte. Das Laubdach wurde immer dichter und schwächte das Tageslicht entsprechend ab. Im Halbdunkel blieb Hammer schließlich stehen und lauschte. Von den Verfolgern war kein Laut zu vernehmen. Er hörte nur das eigene Keuchen und das heftige Schlagen des Herzens. Er schluckte und wischte den Schweiß ab, der ihm brennend in die Augen sickerte. Weiter, weiter, trieb er sich an, und als er sich erneut durch Dornen quälte, gab plötzlich der Boden unter ihm nach. Er kippte seitlich weg, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Doch es half nichts. Kreischend stürzte er in die Tiefe. Nach etlichen Schrecksekunden traf er auf festen Grund und kegelte einen steilen Abhang hinunter, endlos lange wie es schien. Hervorspringende Steine brachten ihm schmerzhafte Prellungen bei, aber er fand im Dunkeln keinen Halt und trudelte immer tiefer. Endlich kam er auf ebenem Höhlengrund zu liegen, wo er eine Weile reglos verharrte, zu Luft zu kommen versuchte und die geschundenen Glieder betastete. Von der Rüstung geschützt, hatte er nur Prellungen erlitten. Winselnd richtete er sich auf und schaute ringsum. Er befand sich in einer Höhle, die an die hundert Schritt breit war und - wer weiß von welchen Menschen oder Riesen - vor zahllosen Jahrhunderten in den schieren Fels getrieben worden zu sein schien. An den Wänden funkelten Hunderte kleiner Kristalle. Sie verbreiteten ein matt silbriges Licht wie Mondschein. Vom Boden ragten gewaltige Stalagmiten, und nicht weniger groß waren die Tropfsteine, die von der hohen Decke herabhingen. Durch die Höhle floss lautlos ein Bach dunklen, abweisenden Wassers. Hammer stand auf und staunte nicht schlecht darüber, dass er immer noch sein Schwert in der Hand gepackt hielt. Seine Instinkte waren also offenbar intakt geblieben. Wankend näherte er sich dem Bach und ließ sich kraftlos am Ufer nieder. Jetzt, da er sich von seinem Schrecken erholt hatte, schmerzten die Knochen umso mehr. Er tauchte die Hand ins eiskalte Wasser und spritzte ein paar Tropfen ins Gesicht. Die Erfrischung tat ihm gut, ließ ihn wieder klar denken und beruhigte die Nerven. Doch als er schließlich aufstand und sich umsah, verließ ihn der Mut schon wieder.  Der Abhang war unmöglich zu erklimmen - viel zu steil und bröckelig. Wahrscheinlich hatte zwar der Bach einen Zu- und Ablauf, die aber lagen unauffindbar im Verborgenen. Hammer starrte ins Dunkle, und als sich seine Augen endlich an das schüttere Licht gewöhnt hatten, entdeckte er eine große, gut drei Meter hohe und fast einen Schritt breite Spalte in der Höhlenwand. Er ging darauf zu, blieb aber bald wieder stehen, als ihm ein helles Funkeln ins Auge stach. Das Schwert gepackt, rückte er langsam weiter vor. Die Werkzeugspuren an den Wänden ließen auf ein sehr hohes Alter schließen. Trotzdem, es war nicht auszuschließen, dass die Nachfahren der Erbauer immer noch hier wohnten, bewaffnet womöglich… Das helle Funkeln ging, wie Hammer im Näher kommen erkannte, auf eine lange silberne Scheide zurück, die neben der Spalte auf dem Boden lag. Er schaute sich argwöhnisch um und spitzte die Ohren. Doch von dem Besitzer des Schwertes war nichts zu hören, geschweige denn zu sehen. Hammer kniete sich hin und musterte das Fundstück, nur mit Blicken. Schwert und Scheide waren gut zwei Schritt lang, und den Maßen der Scheide nach zu urteilen, schien die Klinge, die in ihr steckte, ungewöhnlich breit zu sein. Die Scheide selbst bestand aus purem Silber, in dessen Oberfläche altertümliche Schriftzeichen tief eingraviert waren. Hammer wusste sie nicht zu entschlüsseln, ahnte aber, dass es damit eine verstörende Bewandtnis hatte. Wenn er sie nicht gezielt in Augenschein nahm, schienen die Runen in Bewegung zu geraten. Hammer schluckte und wandte sich einen Moment lang ab. Ihm schwante nun, worauf er hier zufällig gestoßen war. Vor langer, langer Zeit - noch jenseits der Schwelle zwischen Mythos und Geschichtsschreibung - hatte es die so genannten Infernaleisen gegeben: sechs Schwerter von großer Gewalt. Wer sie geschmiedet hatte oder zu welchem Zweck, war unbekannt. Man wusste nur, dass sie nichts Gutes an sich hatten und für die Welt und alle, die darin lebten, eine große Gefahr darstellten. Drei dieser Schwerter verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Die drei restlichen hießen Steinbrecher, Blitzstrahl und Wolfsfluch. Die Hagkönige hielten die Schwerter in der Waffenkammer der Burg unter Verschluss und gelobten, sie niemals zum Einsatz zu bringen. Dieses Versprechen wurde auch jahrhundertelang gehalten, bis sich dann König John, während des Dämonenkriegs in arge Bedrängnis geraten, gezwungen sah, sie ein letztes Mal hervorzuholen. Ein Schwert, der Steinbrecher, wurde zerstört; die beiden anderen gingen in einer Felsspalte verloren. Und nun hatte Jonathon Hammer eines dieser Infernaleisen wiedergefunden. Bewundert starrte er auf die lange Waffe. In die Parierstange war sein Name eingeprägt: Wolfsfluch. Da lag eine ungeheuerliche Kraft, die nur darauf wartete, in die Hand genommen und angewendet zu werden. Die Infernaleisen waren, wie viele Sachverständige meinten, belebt und in der Lage, Verstand und Seele derer in Beschlag zu nehmen, die von ihnen Gebrauch machten. Aber Hammer mochte an diese Geschichte nicht glauben. Er streckte die Hand aus und berührte den mit Leder umwickelten Griff. Und dann kam ihm der Gedanke, dass es womöglich seine Bestimmung war, dieses Schwert zu finden, dass es ihm die ersehnte große Zukunft erschließen könnte. Mit diesem Infernaleisen würde ihm alles, was er sich je erträumt hatte, wie von selbst zufallen, zumindest das, was ihm am Wichtigsten war: andere Menschen beherrschen zu können. Hammer nahm das Schwert in die linke Hand. Trotz der ungewöhnlichen Größe schien es federleicht zu sein. Er schlang die Waffe um die linke Schulter und gurtete sie fest. Sie war angenehm zu tragen und passte auf den Rücken, als gehörte sie dorthin. Mit einer kleinen Lawine polternder Steine kamen sechs Gardisten den steilen Hang in die Höhle heruntergerutscht. Hammer wirbelte herum und griff unwillkürlich nach dem an der Hüfte gegürteten Schwert. Sie haben mich erwischt, dachte er in panischem Schrecken, doch dann beruhigte er sich und ließ mit der Hand von seinem Schwert ab. Das brauchte er nicht mehr. Er hatte jetzt etwas Besseres. Die sechs Soldaten hatten den Fuß des Abhangs erreicht, schauten sich um und hefteten dann ihren Blick auf Hammer. Hämisch grinsend bauten sie sich in einem Halbkreis vor ihm auf. Matt schimmerte das fahle Höhlenlicht auf ihren Schwertern. Worte waren überflüssig. Es gab auf beiden Seiten nichts zu sagen. Hammer hatte einen Mann aus den eigenen Reihen getötet. Er war als Mörder überführt und geächtet. Und weil er Schande über seine Einheit gebracht hatte, war es für seine Kameraden eine Sache der Ehre, ihn zur Strecke zu bringen. Sie würden nicht eher ruhen, bis er tot wäre; das wusste Hammer, doch er fürchtete ihre Wut nicht mehr. Ihm konnte nun keiner mehr etwas anhaben. Als seine Jäger entschlossen näher rückten, trat Hammer ihnen lächelnd entgegen. Er wartete bis zum letzten Augenblick. Dann hob er die rechte Hand und zog den Wolfsfluch blank. Das Schwert sauste aus der Scheide und glühte über seine gesamte Länge bittergelb. Die Soldaten zuckten vor Schreck zusammen. Auch ohne um die Bedeutung des Schwertes zu wissen, schwante ihnen, dass sich etwas in der Höhle aufhielt, das vorher nicht hier gewesen war, etwas, das erwacht war, obwohl es besser bis in alle Ewigkeit geschlafen hätte. Etwas, das Hunger hatte und dessen Hunger Ausdruck fand in der Art, wie Hammer kicherte. Er trat mit erhobenem Schwert einen Schritt vor, worauf seine Kontrahenten unwillkürlich Kampfhaltung annahmen. Sie waren zu sechst und schwer bewaffnet und standen einem einzigen Mann gegenüber, der als Verräter und Feigling bekannt war. Sie hoben ihre Schwerter und der Kampf begann.  Hammer streckte den ersten Gegner mit einem Schlag von der Seite nieder und enthauptete den zweiten, noch ehe der Erste zu Boden gegangen war. Der kopflose Körper torkelte noch ein paar Schritte weiter, bevor er in sich zusammensackte. Blut schwemmte über den Höhlengrund. Zwei Soldaten sprangen nun gleichzeitig auf Hammer zu, die Schwertspitzen auf dessen Herz gerichtet. Der Wolfsfluch zuckte in Hammers Händen und er parierte beide Stöße mit einer Lässigkeit, die fast verächtlich wirkte. Und wieder ließ er die Klinge auf- und niederfahren, so schnell, dass ihr kein Auge zu folgen vermochte. Einer der beiden Gegner versuchte den Hieb mit erhobener Waffe abzuwehren, doch der Wolfsfluch schlug sie entzwei, traf auf den Kopf des Gardisten und spaltete den Schädel bis zum Unterkiefer. Hammer zog das Langschwert frei und fuhr herum, um sich den drei restlichen Soldaten zu stellen. Die standen wie versteinert da, entsetzt über das plötzliche Ableben der Gefährten. Aber sie hatten sich schnell wieder gefangen und fielen wie auf Kommando alle auf einmal über Hammer her. Der kränklich gelbe Schimmer auf der Klinge glimmte hell auf, als sie durch Fleisch, Knochen und Eisen fuhr und auch die letzten drei Gardisten mit einem Streich zur Strecke brachte. Hammer stand über den Gefallenen und rührte keine Miene, als er sah, wie die Leichen innerhalb weniger Sekunden verwesten und zu Staub vergingen, sodass bald nur noch einzelne Stücke frostiger Rüstung und übler Fäulnisgestank übrig blieben. Hammer versuchte zu schlucken, doch sein Mund war trocken. Wolfsfluch, Fluch, der zu Tod und Verderbnis führt. Hammer erinnerte sich - genau das hatte dieses Schwert auch schon im Dämonenkrieg unter Beweis gestellt, als es die Horden des Feindes niedergemäht und bei diesem Gemetzel kaum Spuren zurückgelassen hatte. Hammer betrachtete die Waffe. Das Heft lag unangenehm warm in der Hand und der eklig gelbe Glanz auf der Klinge rief Übelkeit hervor. Er glaubte deutlich spüren zu können, dass das Schwert ein Eigenleben hatte und hungrig war. Und als er auf die Waffenhand blickte, spürte er, wie sich ein Schrei in der Kehle Bahn zu brechen versuchte. Die Hand war in Verwesung übergegangen. Dunkle Flecken breiteten sich auf der Haut aus, die bald auseinander platzte und feuchtes Fleisch entblößte, in dem es vor Maden nur so wimmelte. Und das Fleisch wurde schwarz, zerfaserte und ließ farblose Knochen zum Vorschein treten. Hammer schüttelte den Kopf und traute den Augen nicht, als er sah, wie die Verwesung auch auf den Arm übergriff. Nein! Das kann nicht sein! Vergeblich versuchte Hammer, das Infernaleisen von sich zu werfen, doch die zu einer Klaue gekrümmte Hand hielt starr daran fest und ließ sich nicht öffnen. Hammer wankte auf den Wasserlauf zu und folgte damit dem spontanen, irren Einfall, den Fluch womöglich von sich abwaschen zu können. Am Ufer angelangt, starrte er auf sein Spiegelbild: einen verwesenden Leichnam mit einem Schwert in der Hand, das wie die Sonne leuchtete. Ein Gesicht war nicht mehr zu erkennen, nur das höhnische Grinsen schimmernder Zähne. Bis dann die Kinnlade herunterfiel und ein entfesselter Schrei durch die Höhle gellte. Sie haben mich immer noch im Auge. Sie sind ganz aus dem Häuschen, anscheinend aber auch verlegen, wie jemand, der sich dabei ertappt fühlt, dass er eine Missgeburt angafft. Tja, ich bin für sie wohl auch so eine Sensation, ein echter Held, zum Anfassen sozusagen, einer, an dem rein alles besonders interessant ist: wie er geht, was er sagt; erstaunlich vor allem auch, dass er sich ganz und gar wie ein menschliches Wesen verhält. Sieh nur, wie geschickt er mit Bogen und Pfeil umzugehen versteht, wie er immer wieder ins Schwarze trifft. Das langweilt ihn anscheinend, aber stell dir einfach vor, du könntest Begeisterung in seinen Augen entdecken. Komm und sieh dir diesen Helden an, geh aber nicht zu nahe ran. Denn er ist kein gewöhnlicher Sterblicher, sondern im Grunde auch eine Art von Missgeburt, eine wie diejenigen, die auf Jahrmärkten zur Schau gestellt werden. Edmond Wilde füllte seinen Humpen und trank von dem dickflüssigen, gezuckerten Wein, der für seinen Geschmack viel zu süß war. Immerhin war er stark, und darauf kam es an. Er sah sich um und nahm grinsend Notiz davon, dass alle schnell wegschauten, um seinem Blick nicht zu begegnen. Bauernpack. Dumme Bauern in dreckigen Lumpen, die aus ihren schäbigen kleinen Ortschaften hierher auf den Jahrmarkt gekommen waren, um ein bisschen Licht und Farbe in ihr erbärmliches, trostloses Leben zu bringen. Jene Art von Leben, dem er entflohen war, als er sich den Gardisten angeschlossen hatte… Der Jahrmarkt wirkte wie immer - mit seinen Buden und windschiefen Zelten, den zweitklassigen Jongleuren und Akrobaten, mit angeblich wilden Tieren, die einem aber aus der Hand fraßen, und Glücksspielen mit lächerlich auffällig gezinkten Würfeln. Und natürlich mit einem Missgeburtenkabinett, das aus Rücksicht vor sensibleren Naturen abseits lag: Ein kleines Zelt, in dem ein Kalb mit zwei Köpfen, eine geflügelte Eidechse in einem Glasbehälter und ein wilder Mann ausgestellt waren, der in einem Käfig saß und lebenden Hühnern den Kopf abbiss. Außerdem gab es noch eine Tanzbühne; darauf hopsten leicht geschürzte Frauen mit breitem Lächeln und gefärbten Haaren herum, die auch noch gegen entsprechende Gage für andere Formen der Unterhaltung zu gewinnen waren. Alle Freuden eines Jahrmarktes. Darüber hinaus wurde ein Wettschießen veranstaltet. Deshalb war auch Edmond Wilde, der Meisterschütze, zugegen. Kommt und seht den Mann, der in der letzten großen Schlacht des Dämonenkriegs an der Seite des Königs kämpfte. Seht den Mann, der als einer von wenigen überlebt hat und schon allein darum ein Held ist. Kommt und messt euch mit diesem Meisterschützen. Fünfzig Golddukaten für den, der ihn besiegt! Wilde grinste säuerlich. Er war noch unbesiegt und würde sich auch niemals übertreffen lassen. Denn er war der Beste. Wilde nahm noch einen Schluck aus dem Humpen und wischte sich den Mund mit dem Ärmel. Einen besseren Bogenschützen gab es nicht, und er bestritt seinen Lebensunterhalt damit, dass er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt reiste und mit Dorfdeppen um die Wette schoss. Held zu sein war schön und gut, aber vom Ruhm allein ließ sich nicht leben. Nach Ende des Dämonenkriegs war er immer noch da, wo er als einfacher Soldat angefangen hatte; er wohnte in einer Kaserne und bezog einen spärlichen Sold. Das war ihm zu wenig. Er hatte mehr verdient. Also verließ er die Gardisten und zog auf eigene Faust los, was ihm aber nicht sonderlich gut bekam. Er hatte nichts gelernt außer Bogenschießen und Kämpfen mit dem Schwert. Der Geschäftssinn ging ihm völlig ab, und weil er anfangs in jedes Gasthaus einkehrte, das auf seinem Weg lag, waren seine Ersparnisse aufgezehrt, ehe er sichs versah. Und dann fand ihn der Rummel. Der brauchte so dringend eine Hauptattraktion wie er einen Job. Besser als gar nichts, dachte sich Wilde, und er zog von Dorf zu Dorf, hatte bald den Überblick über all seine Reisen verloren und wusste auch nicht mehr, wie viele Tage, Wochen und Monate er nun schon unterwegs war. Er spannte auf Verlangen seinen Bogen und empfand nach wie vor Genugtuung an dem präzisen Zusammenspiel von Bogen, Pfeil und Ziel, einem Zusammenspiel, in dem er als Schütze nur teilnahm. Ihm war zwar in all dieser Zeit bewusst, dass er sein Talent verschleuderte, doch er hatte keine bessere Alternative vor Augen. Und so fing er zu trinken an, egal welchen Wein; er war nicht wählerisch - auch was die Frauen betraf. Überall, wo er hinkam, traf er auf Bewunderinnen, die von seinem Namen und seinem Ruf beeindruckt und so naiv waren, dass sie sein verächtliches Grinsen nicht zur Kenntnis nahmen. Er war sich selbst überdrüssig und lehnte alle ab, die ihn wertschätzten. Und so wurden aus Wochen Monate und aus Monaten Jahre. Wilde spürte, dass er sein Leben verschwendete, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, Abhilfe zu schaffen. Es gab ja immer noch eine andere Ortschaft, anderen Wein und andere Frauen. Wilde machte sich daran, den geleerten Humpen neu zu füllen, und krauste die Stirn, als er sah, dass auch die Flasche leer war. Bis zum Wettschießen blieb noch eine gute Stunde - und er langweilte sich. Außerdem war er es leid, begafft zu werden. Er stellte Flasche und Humpen ab, schulterte den Bogen und schlenderte ziellos über den Jahrmarkt. Die vielen Händler und Schausteller übertönten einander in der Anpreisung ihrer Angebote. Noch lauter war jedoch die Besuchermenge. Frauen juchzten vor Begeisterung oder zeterten im Streit um bestimmte Sonderposten. Kinder rannten kreischend und staunend umeinander und bettelten um Dinge, die sich ihre Eltern nicht leisten konnten. Bierstände machten gute Geschäfte, Scherenschleifer und Kesselflicker entließen Funkenschauer in die Luft. Wohin Wilde auch ging, überall teilte sich vor ihm die Menge, um ihn passieren zu lassen. Die meisten bestaunten ihn mit unverhohlener Neugier, aber es gab auch einige, die spürten, dass hinter der gefühllosen Fassade, die er aufsetzte, Verdruss und schiere Wut herrschten. Er ging weiter, ohne Richtung, ohne Interesse, und es war ihm alles einerlei. Dass er sich bewegte, reichte, um ihn zufrieden zu stellen. Immerhin hatte er so das Gefühl, tätig zu sein. Schließlich gelangte er jenseits der letzten Stände an den Rand des Marktplatzes. Auf engem Raum drängten sich dort ein paar kleine Zelte und Gerätschaften, die nicht gebraucht wurden. Vor einem der Zelte sah er ein Mädchen. Es trug ein schwarz-rotes Kleid mit tiefem Ausschnitt, das ihm sehr gut stand. Es hatte pechschwarze Haare und hellblaue Augen. Obwohl kaum älter als fünfzehn Jahre, bewegte es sich schon sehr fraulich. Bauernkinder wurden schnell erwachsen. Das verlangten die Umstände, denn wer nicht schnell erwachsen war, wurde es nie. Ein Mädchen in diesem Alter war für gewöhnlich schon verheiratet und dabei, eine eigene Familie zu gründen. Sie schaute auf den Boden, als Wilde den Blick auf sie richtete, und es entging ihm nicht, dass ein Lächeln über ihr Gesicht huschte und die Augen strahlten. Er wusste solche Zeichen zu deuten und ging langsam auf sie zu. Einen Ehering schien sie nicht zu tragen, was aber in dieser ärmlichen Region nichts besagte. Jedenfalls hatte Wilde keine Lust, sich auf Ärger mit einem eifersüchtigen Ehemann einzulassen. Aber er war gelangweilt und wütend auf sich und die Welt; und außerdem hatte er eine Stunde Zeit totzuschlagen. Hoffentlich hat sie keine Flöhe, dachte er. Er gesellte sich zu ihr, lächelte sie an, sagte ihr Nettigkeiten, die er so nicht meinte, und am Ende gingen sie ins Zelt hinein. Darin war es kühl und angenehm schummrig. Das Mädchen zauderte nicht lange und gab ihm einen innigen Kuss auf den Mund. Dann wandte sie sich ab und knöpfte das Kleid auf. Wilde legte Bogen, Köcher und Schwert vorsichtig aus der Hand, zog das Hemd aus und warf es achtlos zu Boden. Sie wartete, bis ihm die Hose auf die Knöchel gerutscht war. Plötzlich wirbelte sie herum und stieß ihn zurück. Wilde wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Er sah in ihrer Hand ein Messer aufblitzen, mit dem sie ihm den Geldbeutel vom Gürtel abschnitt. Und schon wandte sie sich dem Zeltausgang zu. Mit wütendem Gebrüll hechtete er hinter ihr her und bekam sie beim Fußgelenk zu fassen. Sie giftete ihn an. Ihr hübsches Gesicht war vor Wut verzerrt, als sie mit dem freien Fuß auf seine Hand trampelte und sich loszureißen versuchte. Aber Wilde ließ nicht locker, zumal Wut und Trunkenheit die Schmerzen betäubten, die sie seiner Hand beifügte. Er packte nun auch mit der anderen Hand zu und holte sie von den Beinen. Es gelang ihr noch, ihn mit dem Messer zu verletzten, doch sie musste es dann preisgeben, denn er hielt ihr zartes Handgelenk umklammert und zwang sie auf den Rücken. Hämisch grinsend kniete er über ihr. Niemand vergriff sich ungestraft an Edmond Wilde. Sie wehrte sich nach Kräften, fluchte und bespuckte ihn. Er schlug ihr ins Gesicht, und als sie zu schreien anfing, hielt er ihr den Mund zu, worauf sie ihm in die Hand biss. Die Plane im Zelteinstieg flog auf, und ein Mann stürmte herein, ein Schwert in der Hand. Wilde wälzte sich zur Seite und griff nach seiner Waffe. Das Flittchen hat offenbar einen Zuhälter, dachte er und sprang auf die Beine. Und noch ehe sich der vermeintliche Zuhälter an die Dunkelheit im Zelt gewöhnen konnte, hatte Wilde sein Schwert gezogen. Er holte aus und stach zu. Die Rippen des Getroffenen konnten der wuchtig auftreffenden Klinge nicht widerstehen; stöhnend sackte er zu Boden. Das Mädchen hastete zum Ausstieg hin, doch Wilde fackelte nicht lange und streckte es nieder. Als er die beiden Leichen in ihrem Blut verrenkt am Boden liegen sah, verflüchtigte sich auch der Rest an Weinseligkeit, und Wilde war wieder stocknüchtern. Er hob seinen Geldbeutel auf und dachte hektisch darüber nach, was er jetzt tun sollte. Das Mädchen und ihr verhinderter Beschützer waren bestimmt Ortsansässige. Die Dörfler würden ihn als Mörder hängen und seine Version der Geschichte gar nicht erst hören wollen. Er war ein fahrender Artist, ein Außenseiter. Schon waren Laufschritte derjenigen zu hören, die, von den Schreien des Mädchens alarmiert, herbeieilten, um nach dem Rechten zu schauen. Er zog seine Hose hoch und griff nach Bogen und Köcher. Auf dem Weg nach draußen trat er dem toten Mädchen in die Seite. Miststück. Alles nur deine Schuld. Als er den Kopf durch die Zeltöffnung streckte, sah er das halbe Dorf herbei rennen. Schnell zog er den Kopf wieder ein, sprang auf die andere Seite des Zeltes und schnitt sich dort einen Ausstieg in die Plane. Der Waldrand war nicht allzu weit entfernt. Wenn er sich beeilte, würde er im Unterholz verschwinden können und so den Verfolgern entkommen. Es erhob sich ein Geschrei, als man ihn entdeckte. Er rannte los. Doch schon bald war ihm klar, dass er es nicht schaffen würde. Er war nicht gut in Form, und die Dörfler holten mächtig auf. Taumelnd machte er Halt und wandte sich seinen Verfolgern zu. Es dauerte eine Weile, bis er den Bogen zur Hand genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt hatte. An der Spitze der Menge lief ein Soldat. Wilde zögerte. Ich kann doch nicht auf einen Kameraden schießen… Aber er wollte sich auch nicht geschlagen geben. Und so schoss er den Pfeil ab und traf das Opfer in den Hals. So wuchtig war der Aufprall des Pfeils, dass der Soldat nach hinten umkippte. Die Menge trudelte aus. Um ganz sicher zu gehen, streckte Wilde zwei weitere Verfolger mit seinen Pfeilen nieder; dann drehte er sich um und hastete weiter. Fast hatte er den Waldrand erreicht, als er in ein Loch trat und zu Boden stürzte. Er hörte, wie das Bein brach. Wieder aufzustehen war ihm unmöglich. Es fiel ihm schon schwer genug, nach Luft zu ringen. Benommen blickte er sich um und sah, dass der Bogen außer Reichweite lag. Und dann waren die Dörfler zur Stelle. Die ihn als Erste erreichten, traten dem Bogenschützen in die Rippen, der so sehr außer Atem war, dass er nicht einmal laut aufschreien konnte. Die Menge umringte und beschimpfte ihn als Vergewaltiger und Mörder, immer und immer wieder, bis die Stimmen in ein hässliches Stakkato übergingen, das Blut gier mitschwingen ließ. Füße traten auf ihn ein, Knüppel fuhren auf ihn nieder, und am Ende hatte er nicht einmal mehr die Kraft zu stöhnen. Da wickelte einer ein Seil auseinander. Nein… Lachend und krakeelend schleifte man Wilde vor den nächst besten Baum. Was konnte der Volksfeststimmung zuträglicher sein als eine zünftige Hinrichtung? Das Seil flog über einen hohen Ast. Als Wilde die Schlinge vor seinen Augen baumeln sah, mobilisierte er letzte Kräfte und langte verzweifelt aus - in Richtung der feixenden Gesichter ringsum. Doch es waren genügend Männer da, die ihn in Schach hielten. Man fesselte ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Jemand legte ihm die Schlinge um den Kopf. Das raue Seil schürfte seine Haut auf. Nein. Das kann nicht wahr sein. Ich bin doch entkommen. Ich hin in den Wald geflohen und führe seitdem ein Lehen als gefürchteter Räuber. Ein Dutzend Männer hielten das Seil gepackt und hievten ihn langsam in die Höhe, bis seine Füße über dem Gras baumelten. Er zappelte und würgte, und die Menge johlte, sooft er mit den Beinen austrat. Ihm war klar, dass er sterben musste, wogegen er sich plötzlich gar nicht mehr sträubte. Das Leben, das er geführt hatte, war kein großer Verlust. Ein Mal ein Held gewesen zu sein hatte ihm nicht viel genützt. Im Gegenteil: Nach einer kurzen Phase flüchtigen Ruhms war er in ein tiefes Loch aus Langeweile und Leere gestürzt. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Und er hatte ihn ja auch verdient. Seine Glieder wurden schlaff und es umfing ihn Dunkelheit, die er willkommen hieß. Vogelscheuchen-Jack lag ausgestreckt auf weichem Moos am Rand einer Lichtung. In den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Bäume fielen, schwirrten Schwärme von Insekten. Erde, Bäume, Blätter und Blüten verströmten würzige Düfte. Wie verzaubert beobachtete Jack einen Schmetterling, der wie ein Stück beseelter Launenhaftigkeit durch die Luft trudelte. Aus allen Ecken schallte Vogelgesang von kurzen Schnäpperlauten bis hin zur großartigen Koloratur. Jack reckte sich behaglich. Das Moos war fest und trocken und die Luft an diesem Spätsommertag wohlig warm. Vogelscheuchen-Jack war zu Hause und rundum zufrieden. Mit einem Male verstummten die Vögel. Auf einem Ellbogen abgestützt, richtete er sich auf und schaute in die Runde. Die plötzliche Stille deutete auf einen Eindringling hin. Doch obwohl sich das Schweigen in die Länge zog, konnte Jack keine Schritte hören, und alle seine Sinne meldeten ihm, dass sich außer ihm weit und breit kein Mensch im Wald befand. Jack legte die Stirn in Falten. Es war allzu still. Nicht eine einzige Fliege summte und sogar der Schmetterling hatte sich verzogen. Verunsichert stand Jack auf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne; die goldenen Lichtstrahlen verschwanden. Es wurde so kalt, dass Jack zitterte. Der Luftdruck fiel und ließ ein Ungewitter erwarten. Jack sah sich um und suchte nach einer Erklärung für das ängstliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte. Auf der Lichtung regte sich nichts, auch nicht zwischen den Bäumen und in den dichter werdenden Schatten. Jack horchte in sich hinein, doch seine Instinkte waren ungewöhnlich taub. Irgendetwas hatte sie außer Kraft gesetzt. Es lag da draußen auf der Lauer, beharrlich, entschlossen. Es beobachtete ihn aus scharfen Augen und wartete. Jack zog sein Messer aus dem Stiefelschaft. Er schaute in die Höhe und sah, dass am klaren blauen Himmel vorzeitig die Nacht hereinbrach. Die Sonne verlor ihren Glanz, rötete sich und verlosch. Jack wimmerte leise. Es war unmöglich, wider die Natur, dass es so früh Nacht wurde… Über den Wald fiel ein neues Licht, schwer und faulig. Am sternlosen Himmel tauchte der volle Blaumond auf. Jack schüttelte den Kopf und versuchte zu leugnen, was er mit eigenen Augen sehen musste, doch er spürte die Wilde Magie knistern — wie die Luft in Gewittern. Jack wollte vor Kummer vergehen. Sein Zuhause, der Wald, war plötzlich nicht mehr da; an dessen Stelle breitete sich das Finsterholz aus. Das Leben, das er kannte, schien ein für allemal verloren zu sein, und er war nunmehr nichts weiter als ein Mann namens Jack, verfemt und ohne Obdach. Er schluckte und wehrte sich gegen einen Anfall von Panik, der ihn zu übermannen drohte. Er griff nach seinem Messer und suchte Trost in dem vertrauten Gefühl, das Heft in der Hand zu halten. Der Wald war zwar tot und verschwunden, würde sich aber immerhin noch rächen lassen. Er, Vogelscheuchen-Jack, ließ sich nicht ungestraft nehmen, was ihm gehörte. Er wandte sich vom Blaumond ab. Die Lichtung wirkte plötzlich dunkel und bedrohlich. Hier konnte er nicht bleiben, um das zu tun, was er nun vorhatte; er würde auf dem offenen Gelände im Notfall keine Deckung finden. Als er sich aber in Richtung der Bäume in Bewegung zu setzen versuchte, kam er nicht von der Stelle. Er blickte an sich herab und sah, dass das hoch aufgeschossene Gras seine Fußgelenke fest umschlungen hielt. Jack zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, doch das Gras war nicht zu zerreißen. Erst als er mit dem scharfen Messer daran ging, gelang es ihm, die zähen, widerspenstigen Halme einzeln zu kappen. Wieder stieg Panik in ihm auf und es fiel ihm immer schwerer, sie zurückzudrängen. Endlich wieder frei, rannte er los. Das Gras ringsum wuchs immer schneller; es schoss geradezu aus dem Boden und wogte hin und her, obwohl sich kein Lüftchen rührte. Die längeren Halme langten aus, als gierten sie nach seinen Beinen. Dann sah er die Bäume vor sich aufragen und fasste neuen Mut. Zwischen den Bäumen würde er wieder in Sicherheit sein, so hoffte er jedenfalls. Über der Lichtung flimmerte die Luft im schaurigen Schein des Blaumonds; im Finsterholz dagegen stammte das einzige Licht von den phosphoreszierenden Flechten an den Bäumen. Jack blieb stehen und suchte mit Hilfe seines Spürsinns nach Orientierung. Aber der Wald schwieg still. Als er sich an den Stamm des nächsten Baumes lehnte, gab die Rinde unter seinem Gewicht nach. Erschrocken trat er von dem Baum weg und stellte fest, dass der Stamm morsch und von innen heraus verfault war. Überall lag Fäulnisgeruch in der Luft, schwer und erstickend. Die Äste der Bäume verdrehten und wanden sich plötzlich. Ehe Jack sich darauf einstellen konnte, hatten sich ihm hinterrücks Zweige um die Brust geschlungen. So fest drückten sie zu, dass er kaum noch Luft bekam. Jetzt half auch das Messer nicht; er fand keine Stelle, an der er es ansetzen konnte, ohne sich selbst zu verletzen. Die Zweige hoben ihn vom Boden auf, hoch in die stinkende Luft. Ohnmächtig strampelte er mit den Beinen, als er den Boden unter den Füßen verlor. Nein. Das kann so nicht sein. Jack gab alle Gegenwehr auf und konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Das Finsterholz war zerstört, der Blaumond längst verschwunden. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Ausgeschlossen, dass sie wieder zurückgekehrt waren. Jack versuchte, nur an dieser einfachen Gewissheit festzuhalten und alle anderen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Da ließen die Zweige plötzlich von ihm ab. Er fiel zu Boden, steckte sein Messer zurück in den Stiefelschaft und richtete sich auf. Er brauchte es nicht mehr. Umstrahlt von hellem Sonnenlicht, das die Dunkelheit vertrieb, kehrte er zur Lichtung zurück. Aus finsterer Ferne tönte wütendes Geschrei. Jack blieb davon unbeeindruckt und achtete nicht weiter darauf. Er war Vogelscheuchen-Jack und besaß die Kraft der Bäume. Er war Teil des Waldes, sein Hüter und Mittelsmann; eine Zerstörung des Waldes würde er nicht zulassen. Die toten und modernden Bäume rührten sich knarrend, konnten ihm aber mit ihren peitschenden Zweigen nichts anhaben, denn er war geschützt von dem Lichtkegel, der ihn begleitete. Jack trat in die Lichtung hinaus und wartete. Der Blaumond starrte herab, doch sein Licht verfehlte ihn. Die Wilde Magie verpuffte wirkungslos. Jack blickte zum Nachthimmel auf. Es müssten Sterne zu sehen sein. Und nun kam ein Stern nach dem anderen zum Vorschein, matt und unscheinbar zunächst, doch allmählich gewannen sie an Leuchtkraft und überstrahlten den Blaumond. Plötzlich wurde ein Flattern laut; eine Eule senkte sich mit ausgestreckten Krallen aus der Dunkelheit. Jack zuckte nicht mit der Wimper, und die Eule drehte bei, verschreckt vom Flutlicht der Sonne. Das Flügelgeflatter schwoll an, als Hunderte von Vögeln jeglicher Art aus der Nacht herbeischwärmten. Alles Waldgetier, Groß und Klein, trat fauchend und zischelnd auf den Plan, doch Jack hielt zuversichtlich stand. Er war gegen alle Angriffe gefeit. Vögel und Tiere zogen wieder ab. Der Blaumond erblasste und verschwand. Der Tag verdrängte die Nacht. Es war wieder heller Sommer. Jack stand am Rand der Lichtung und sah sich um. Alles war, wie es sein sollte. Er nickte zufrieden und legte sich wieder aufs Moos. Ich habe nur geträumt. Gleich werde ich aufwachen. Er schloss die Augen und überließ sich dem Schlaf. Hammer schreckte auf und schlug mit den Armen um sich. Dann entspannte er sich, als er sah, wo er war: in einer sicheren Kammer der Grenzfeste. Es war alles nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Seufzend richtete er sich im Stuhl auf. Allmählich fand sein Puls zu einer normalen Frequenz zurück. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wischte sich mit dem Ärmel das schweißnasse Gesicht. Plötzlich hielt er inne und betrachtete seine Hände von beiden Seiten, suchte nach Spuren der Verwesung, an die er sich erinnerte. Doch davon war nichts zu erkennen. Alles in Ordnung, dachte er erleichtert. Es war nur ein Alb, eine im Traum verzerrte Erinnerung aus zurückliegender Zeit. Er warf einen Blick auf die Kumpane. Jack hatte die Augen geschlossen und wirkte ganz und gar entspannt. Wilde aber stöhnte und ächzte im Schlaf. Plötzlich fing er zu würgen an; Speichel troff aus den Mundwinkeln und er rang nach Luft. Jack erwachte und sah sich ruhig um. Hammer ging zu Wilde hin, packte ihn bei den Schultern und rief seinen Namen. Wilde riss die Augen auf und fuhr entsetzt in die Höhe. Er war außer sich und es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er nur geträumt hatte. Mit zitternder Hand griff er an seinen Hals und schluckte. Hammer trat einen Schritt zurück. »Schlecht geträumt?«, fragte Jack. Wilde nickte benommen. Jack krauste die Stirn. »Das hab ich auch. Und du, Hammer?« »Ich hatte einen regelrechten Albtraum«, antwortete Hammer betont gelassen. »Uns drückt wohl alle ein schlechtes Gewissen. Sei's drum.« »Ich furchte, es steckt mehr dahinter«, sagte Jack. »Dieser Ort hier ist voll von Albträumen.« Hammer blickte auf. »Was soll das heißen?« »Als ich das erste Mal hier war, hatte ich Gelegenheit, die Ranger zu beobachten. Sie waren am Schlafen, sogar derjenige, der eigentlich Wache schieben sollte. Sie haben alle geträumt, und wie's aussah, waren's keine angenehmen Träume. Wovon hast du geträumt, Hammer?« Hammer musterte Jack mit kritischem Blick. Dann zuckte er die Achseln und sagte: »Über einen dunklen Punkt in meiner Vergangenheit. Und du?« »Ich habe geträumt, dass sich der Wald wieder ins Finsterholz zurückverwandelt. Wilde?« »Mir kamen alte Sünden wieder hoch«, antwortete der Bogenschütze. »Wir sollten von hier verschwinden, Hammer. Mir gefällt's hier nicht. Dieses Fort ist bösartig.« »Orte können nicht bösartig sein«, entgegnete Hammer ruhig. »Nur Menschen.« »Das stimmt so nicht immer«, widersprach Jack. »Im Wald gibt es Stellen, die man lieber meiden sollte. Düstere Stellen. Die gab es schon vor der langen Nacht — und es gibt sie immer noch. Da kann man das Böse förmlich spüren. Es steckt im Holz, in der Erde und in den Steinen, wie ein dunkler Fleck, der sich nicht rauswaschen lässt. Ein solcher Ort ist auch dieses Fort. Das fühle ich. Es kann kein Zufall sein, dass wir alle schlimm geträumt haben.« »Hier stinkt's überall nach Blut und Tod«, sagte Wilde. »Lass uns abhauen, Hammer.« »Obwohl wir so nahe am Ziel sind?«, entgegnete Hammer. »Hast du den Verstand verloren?« »Das werde ich, wenn wir hier länger bleiben. Und dir blüht dasselbe. Das Fort ist mörderisch. Es sieht zwar wie ein x-beliebiges Fort aus, führt aber ein Eigenleben und will uns töten. Alles ist verrückt hier. Schlimme Träume, Bestien, die es gar nicht mehr geben dürfte, Blutlachen, Seilschlingen, weit und breit keine Menschenseele…« Wilde steigerte sich in eine Hysterie hinein, und erst als Hammer ihm ins Gesicht schlug, brach er sein Gezeter ab. Stattdessen griff er nach seinem Schwert. Hammer rührte sich nicht, behielt Wilde aber fest im Blick. Der Bogenschütze hatte sich schnell wieder gefasst; der ängstliche Ausdruck auf seinem Gesicht war verschwunden. Die Lippen waren fest aufeinander gepresst, die Augen funkelten tückisch.  »Und?«, fragte Hammer leise. »Was hast du jetzt vor, Edmond? Willst du mich schlagen? Umbringen? Sei kein Narr. Mag sein, dass du mal ein Held gewesen bist, aber das ist lange her. In dem Augenblick, da du deine Hand gegen mich erhebst, hab ich sie dir abgeschnitten.« »Ich schieße mit dem Bogen so gut wie eh und je«, behauptete Wilde mit flacher Stimme und regloser Miene. »Und ich kann auch ganz gut mit dem Schwert umgehen.« »Ja«, bestätigte Hammer. »Das kannst du. Aber ich habe den Wolfsfluch.« Die beiden starrten einander an. Jack blickte beunruhigt von einem zum anderen. So kannte er Wilde noch nicht. In dessen Gesicht stand Zorn und Entschlossenheit geschrieben, und so etwas wie ein Rest von Würde. »Du bist mein Mann, Edmond«, verlangte Hammer. »Was wärst du ohne mich? Ich bin deine einzige Chance, aus dem Schlamassel wieder rauszukommen, in dem du steckst, und das weißt du.« Wilde holte tief Luft und atmete langsam aus. Er zog die Hand vom Schwertgriff zurück. »Ja«, sagte er schließlich in bitterem Tonfall. »Ich bin dein Mann.« Hammer schmunzelte. »Gut. Das wäre also geklärt. Irgendwo in diesem Fort liegt ein Goldschatz im Wert von hunderttausend Dukaten versteckt, und er wartet nur darauf, dass wir ihn bergen. Schlimme Träume können mir keine Angst machen. Ich bleibe. Und du bleibst auch, Edmond. Verstanden.« »Ja.« »Lauter, Edmond. Ich höre nichts.« »Ja! Ich habe verstanden!« Wilde kehrte ihm den Rücken zu und stellte sich vor die verriegelte Tür. Wut brannte in seinem Gesicht, doch von der Entschlossenheit und Würde war nichts mehr zu sehen. »Schon besser«, sagte Hammer, der sich nun Jack zuwandte. Der zuckte mit den Achseln und sagte: »Ja, auch ich bin dein Mann. Bis auf Weiteres.« »Du bist mein Mann, solange es mit gefällt.« Hammer gähnte und reckte sich. »Die Ranger werden sich wohl inzwischen wieder beruhigt haben. Ich glaube, wir können jetzt einen Blick in den Keller werfen. Mal sehen, was da zu finden ist.« Er ging zur Tür. Wilde öffnete sie für ihn. Sie spähten in den dunklen Korridor hinaus. Darin war alles ruhig und still. Hammer blickte in die Kammer zurück und nickte Jack zu, der daraufhin mit Fackel und Laterne nachkam. Hammer nahm die Laterne entgegen und hielt sie durch den Türausschnitt nach draußen. Schatten sprangen über die Wände, sonst war der Korridor leer. Hammer setzte sich in Bewegung. Von den Kumpanen gefolgt, ging er Richtung Keller. MacNeil passierte mit seinem Trupp einen engen Gang, der in den Keller führte. Flint und der Tänzer blieben ihm dicht auf den Fersen und setzten ihre Füße so leise auf, dass kaum ein Laut zu hören war. Constance folgte als Letzte und murmelte unablässig vor sich hin. Zauberformeln, wie MacNeil vermutete. Oder sie ärgerte sich noch immer darüber, dass sie von ihrer Hellsicht im Stich gelassen wurde. Er verzichtete, sie danach zu fragen, zumal er die Antwort gar nicht wissen wollte. MacNeil fröstelte, als er den Absatz jener steinernen Treppe erreichte, die in den Keller hinabführte. Es war hier wieder so kalt, dass der Atem vor dem Mund verdampfte, und an den Wänden hatte sich stellenweise Raureif gebildet. MacNeil krauste die Stirn. Die weißen Flecken gaben ihm zu denken. Sie schienen zugenommen zu haben und zeigten sich auch an Stellen, wo sie vorher nicht gewesen waren. Wie er den Gefährten ansehen konnte, hatten sie offenbar dieselbe Beobachtung gemacht. Sie daraufhin anzusprechen hatte aber keinen Sinn. Und so sagte er nichts, hielt die Laterne höher, damit sich das Licht besser ausbreiten konnte, und stieg über die Stufen hinab. Die Tür am unteren Treppenabsatz war noch verschlossen. MacNeil prüfte sie genau. Er konnte nichts Verdächtiges an ihr feststellen, und doch schien sich etwas verändert zu haben. Das fühlte er. Er streckte die freie Hand aus, berührte das Türblatt - und zog die Hand ganz schnell wieder zurück. Das Holz war eiskalt, so kalt, dass ihm die Fingerkuppen erfroren wären, hätte er sie länger daraufliegen lassen. Er zog einen Lappen aus der Tasche, wickelte ihn um die Hand und drehte den Türknauf so schnell wie möglich auf. Die Tür öffnete sich eine Handbreit, als er mit dem Fuß dagegen trat, klemmte dann aber fest. Flint kam zu Hilfe, und gemeinsam stemmten sie sich mit den Schultern gegen das Holzblatt. Es gelang ihnen schließlich, die Tür so weit aufzuschieben, dass sie durch die Öffnung schlüpfen konnten. Die vier Ranger traten in den Keller und sahen sich schweigend darin um. Der Boden und alle vier Wände waren mit einer dicken Eisschicht überzogen, durch die rosarot die Blutflecken hindurch schimmerten. Von der Decke hingen lange, gezackte Eiszapfen. Der vor die Wände gestapelte Unrat verschwand unter dickem, flockigem Raufrost, und die Fässer, die die Luke verbarrikadierten, waren zu einem einzigen Eisblock verwachsen. Die Luft war betäubend kalt und setzte den Rangern so sehr zu, dass sie kaum zu atmen wagten. »Woher kommt diese Kälte bloß?«, flüsterte Flint. »Es ist doch Sommer.« »Sie kommt von unten«, sagte Constance. »Aus den Stollen. Darin haust etwas, das keine Wärme verträgt.« MacNeil sah sie an. »Ist es etwa aufgewacht?«  »Ich glaube nicht. Es träumt nur, und zwar von der Zeit, als es noch durch die Welt gegangen ist.« MacNeil ging vorsichtig auf die eisüberzogenen Fässer zu. Die anderen Ranger verteilten sich ebenso vorsichtig im Raum. MacNeil setzte die Laterne ab, zog sein Schwert, nahm die Klinge in beide Hände und hackte mit dem Heft so wuchtig auf die Kruste ein, dass Eissplitter durch die Luft stoben. Doch schnell wurde klar, dass die Kruste zu dick war und dass es viel zu lange dauern würde, die Fässer auf diese Weise freizulegen. An die Hexe gewandt, sagte er: »Konzentrier dich, Constance. Was siehst du jetzt unter der Falltür.« Die Hexe schloss die Augen. Ihr magisches Gesicht tat sich weit auf. Die Falltür bestand aus fest verfugten Eichenbrettern und war mit dicken Eisenstangen verriegelt. Unter der Tür machte sich Dunkelheit breit und in der kalten Tiefe regte sich etwas, das schlief. Es träumte in einem fort und gewann an Kraft, je weiter es aus seinem Schlaf, der schon Jahrhunderte andauerte, auftauchte; und seine Träume wurden immer deutlicher in der erwachenden Welt. Obwohl es noch schlief, spürte das Biest, dass es beobachtet wurde, und Constance zog sich zurück, als sich ein einziges großes Auge langsam zu öffnen begann. Sie brach den magischen Kontakt ab, schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Dank ihrer Hellsicht hatte sie eine Vorstellung von den Gedanken und Absichten des Biestes gewonnen - und sie ahnte, dass ein Blick in das aufwachende Auge schlimmer sein würde als der Tod. »Na? Was hast du gesehen?«, fragte MacNeil. Constance schüttelte den Kopf. »Die Stollen sind leer. Was immer sich darin verbirgt, muss ganz tief in der Erde stecken.« »Irgendwelche Anzeichen auf das Gold?« »Nein. Aber ich glaube jetzt zu wissen, was hier im Fort vorgefallen ist.« Sie musste kräftig schlucken. Die Zunge klebte ihr am Gaumen und ihr war übel. Selbst der nur sehr flüchtige Einblick in das Wesen des Biests hatte ein Gefühl unaussprechlichen Ekels bei ihr hinterlassen. Flint und der Tänzer sahen einander an. MacNeil wartete geduldig ab. Constance holte Luft. Allmählich fasste sie sich wieder, und als sie schließlich den Mund aufmachte, sprach sie mit ruhiger, beherrschter Stimme. Nur ihre Augen verrieten noch den Schrecken über das, was sie entdeckt hatte. »Zuerst dachte ich, es sei ein Dämon. Aber es ist noch viel älter. Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten. Selbst die Entstehung von Finsterholz hat seine Träume kaum gestört. Doch dann kamen die Menschen; sie bauten ein Fort über seinem Schlafplatz und lärmten in ihren Gedanken so sehr, dass es nicht mehr darüber hinweghören konnte. Es rührte sich in seinem Schlaf und seine Träume schwärmten aus und fanden Nahrung unter denen, die bei wachem Verstand waren. Mit anderen Worten: Über diese Träume verloren alle, die hier wohnten, den Verstand. Und in ihrem Wahn töteten sie sich gegenseitig. Dadurch gewann das Wesen an Kraft und holte die Toten zu sich. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht als Nahrung für den Fall, dass es aufwache. Oder als Köder… ich weiß nicht. Jedenfalls wird es in absehbarer Zukunft erwachen. Seine Träume nehmen in der realen Welt konkrete Gestalt an und üben Einfluss aus. Und wenn das Wesen erst einmal wach ist… wird die Welt, wie wir sie kennen, untergehen. Sie blickte zu MacNeil auf. »Du musst es töten, Duncan. Und zwar bald, bevor es aufwacht und seine volle Macht entfaltet. Steig runter ins Dunkel und töte das Biest.« MacNeil starrte sie an. Ihm fehlten die Worte. Er wollte nicht wahrhaben, was sie sagte, ahnte aber, dass es die Wahrheit war. In ihrem Gesicht, in den Augen lag ein Ausdruck, der für Zweifel keinen Raum ließ. Schließlich sagte er: »Wenn es so alt und so gefährlich ist, wie soll ich es dann töten können? Dazu brauchte man schon eine ganz besondere Waffe, zum Beispiel eins dieser verfluchten Höllenschwerter, die aber längst verschollen sind.« »Nein«, widersprach Constance. »Eins gibt es noch. Es befindet sich sogar hier bei uns im Fort, und zwar im Besitz eines Mannes namens Jonathon Hammer.« »Hammer?« Giles war sichtlich überrascht. »Der soll hier sein?« »Kennst du diesen Mann?«, fragte MacNeil. »Wir haben von ihm gehört«, antwortete Flint. »Er ist ein Söldner - und stolz darauf. Verdingt sich dem, der ihm das meiste Geld bietet, und stellt keine Fragen. Er würde selbst seine Mutter töten, wenn der Preis stimmt.« »Er hält sich für einen guten Schwertkämpfer«, steuerte der Tänzer als Neuigkeit bei. »Ist er das denn auch?«, fragte MacNeil. Der Tänzer zuckte mit den Achseln. »Er ist ganz gut. Aber ich bin besser.« MacNeil wandte sich wieder an Constance. »Wie kommt einer wie der an eins dieser Infernaleisen?« »Ich weiß nicht«, antwortete die Hexe. »Die Waffe schirmt sich vor meiner Hellsicht ab. Aber so viel ist sicher: Sie befindet sich zurzeit hier im Fort und steht diesem Hammer zur Verfügung. Er wird sie hierher in den Keller bringen, und dann werdet ihr, du und Hammer, hinabsteigen und das Biest töten. Andernfalls wären wir alle verloren.«  Sie wandte sich ab und starrte auf die Fässer, die, immer noch von einer dicken Eiskruste überzogen, die Luke verbarrikadierten. Ihr Blick war wieder ganz entrückt. MacNeil winkte Flint und den Tänzer zu sich. Sie zogen sich in den gegenüberliegenden Winkel des Raums zurück und tuschelten im Flüsterton miteinander. »Können wir uns denn auf ihre Hellsicht verlassen?«, fragte Flint. »Schwer zu sagen«, antwortete MacNeil. »Sie ist natürlich nicht so erfahren wie Salamander, hat aber zweifelsohne eine große magische Kraft. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.« »Aber was soll dieser ganze Unsinn von Träumen, die wahr werden?«, fragte der Tänzer. »Glaubst du das auch?« »Es wäre eine Erklärung für das, was hier passiert ist«, antwortete MacNeil. »Ich glaube ihr kein Wort«, sagte Flint. »Im Dämonenkrieg hab ich ein paar ziemlich scheußliche Dinge aus der Erde steigen sehen. Ich war dabei, als Prinz Harald und Prinzessin Julia ein solches Scheusal mit ihren Infernaleisen erlegt haben, mit Mühe und Not, denn selbst diese Höllenschwerter hätten fast nicht ausgereicht.« »Da ist noch etwas«, sagte MacNeil mit gekrauster Stirn. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Söldner Hammer tatsächlich eine solche Waffe in seinem Besitz hat. Soviel ich weiß, sind Blitzstrahl und Wolfsfluch seit dem Dämonenkrieg verschollen. Oder?« »Ja«, bestätigte Flint. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf Nimmerwiedersehen in eine tiefe Erdspalte fielen.« »Und der Steinbrecher wurde, wie es heißt, vom Schwarzen Prinzen vernichtet«, bemerkte der Tänzer. »Es gab ursprünglich sechs von diesen Eisen«, sagte MacNeil. »Darin stimmen alle Berichte überein. Es könnte sein, dass eine der drei verschollenen Waffen wieder aufgetaucht ist.« »In dem Fall könnte Hammer in der Tat an eine gelangt sein«, erwiderte Flint. »Er soll immer äußerst viel Glück haben. Aber wenn von dem, was ich über die Infernaleisen gehört habe, nur die Hälfte wahr wäre, würde ich ihn nicht beneiden. Diese Schwerter sind, wie es heißt, überaus böse und tückisch.« »Ja«, sagte der Tänzer. »Genauso wie Hammer selbst.« MacNeil winkte ab. »Ach, machen wir uns nicht verrückt. Soll er doch erst einmal kommen. Dann wird uns schon noch was einfallen. Bis es so weit ist, könnten wir uns weiter nach dem Gold umsehen. Wenn es sich da unten in den Stollen bei diesem Unwesen befindet…« »Falls es sich da befindet«, fiel ihm Flint ins Wort. »Die Hexe weiß es auch nicht genau. Es könnte natürlich sein, dass das Biest den Schatz als Köder nutzt.« »Wie passt denn das zusammen?«, sagte der Tänzer. »Es schläft doch angeblich.« »Das habe ich nicht vergessen, glaub mir.« MacNeil blickte auf den Eisberg über der Falltür. Die darin steckenden Fässer waren nur als Schatten zu erkennen. »Wenn Hammer auf dem Weg hierher ist, wär's gut, wenn wir die Falltür freigelegt hätten, ehe er zur Stelle ist. Wir sollten ihm immer einen Schritt voraus sein. Wenn er tatsächlich mit einem Infernaleisen bewaffnet ist, brauchen wir jeden kleinen Vorteil, den wir haben können.« »Aber es vergehen Stunden, ehe wir das Eis gebrochen haben«, sagte Flint. »Und wer weiß, vielleicht ist auch der Schacht unter der Falltür voller Eis.« »Nein«, entgegnete MacNeil. »Das hätte Constance gesehen.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wandte sich der Hexe zu und fragte: »Constance, könntest du vielleicht das Eis wegzaubern?« »Ja«, antwortete Constance unumwunden. »Das kann ich. Aber ein solcher Akt würde mir so ziemlich alles abverlangen. Magie hat ihre Grenzen, und ich bin von meinen nicht mehr weit entfernt. Womöglich ist mir danach die Hellsicht genommen.« »Tu's trotzdem«, sagte MacNeil. Constance nickte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und rief ihre Zauberkraft auf, die nur langsam in Schwung kam, dann aber mächtig aufloderte. Daraufhin sprach Constance ein einziges Machtwort - und der Eisberg über der Falltür explodierte. Eissplitter spritzten durch den Raum, wovon aber die vier Ranger unbehelligt blieben. Von der Wucht der Explosion erschüttert, fielen auch einige Eiszapfen von der Decke und zerschellten am Boden. Lange Risse bildeten sich in den Eisschichten an den Wänden. Vorsichtig ließen die Ranger die Arme sinken, die sie schützend vors Gesicht gehoben hatten, und starrten auf die Falltür. Die Fässer waren geborsten und zersplittert. Inmitten der Trümmer lag, wie frei gekehrt, die Falltür. »Sehr beeindruckend«, lobte MacNeil und nickte Constance anerkennend zu. »Es hat mich auch einiges an Kraft gekostet.« »Wie viel Magie hast du noch übrig?« »Ein bisschen. Der Rest wird sich mit der Zeit wieder auffüllen.« »Wie lange dauert das?« Die Hexe zuckte mit den Achseln. »Mehrere Stunden, ein paar Tage. Hängt davon ab, wie groß die Belastung ist, unter der ich stehen werde.«  »Dann schon dich jetzt ein bisschen«, meinte MacNeil. »Das würde ich auch gern«, murrte Flint. »Wann hatte ich das letzte Mal Zeit für mich selbst?« MacNeil überhörte die Bemerkung und trat auf die Falltür zu. Er ging davor in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über die beiden Eisenriegel. Sie fühlten sich kalt an, aber nicht mehr so erschreckend widernatürlich wie bei der ersten Berührung. MacNeil schaute sich zu Flint und dem Tänzer um und schmunzelte, als er sah, dass sie zurückgetreten waren und ihre Schwerter gezückt hatten. Constance stand neben ihnen. Ihr Gesicht war entspannt, doch der Blick verriet Besorgnis. MacNeil schaute zurück auf die Falltür. Er dachte an die Riesen, die durch die dunklen Stollen gekrochen kamen, und erschauderte unwillkürlich. Er holte tief Luft und schob den ersten Riegel beiseite, was kaum Kraft erforderte und fast lautlos vonstatten ging. Ebenso einfach ließ sich auch der zweite Riegel verschieben. MacNeil schürzte die Lippen und fragte sich, ob es womöglich an Constances Zauber lag, dass sie so leichtgängig waren. Oder hatte das, was sich in den Tiefen versteckte, vielleicht ein Interesse daran, dass die Klappe geöffnet wurde? Trotz der Kälte waren MacNeils Handteller schweißnass. Er wischte sie an den Hosenbeinen ab, ehe er nach dem großen Eisenring in der Mitte der Falltür griff. Entschlossen packte er zu und zog an der Klappe, die leise knarrend um die Angeln kippte. Der Lukenausschnitt starrte vor Dunkelheit. Als sein Blick auf die Unterseite der Tür fiel, presste MacNeil angewidert die Lippen zusammen. Das ramponierte Holz war voll von frischem Blut. Darin wanden sich Hunderte von Maden, und aus der Tiefe wehte ein Luftzug, der den Gestank verrotteten Fleisches mit sich führte. Flint stieß einen Fluch aus. Der Tänzer fuchtelte mit dem Schwert herum. Constance verzog keine Miene; sie stand reglos da wie eine Statue. MacNeil beugte sich über die Öffnung und starrte ins Dunkel. Erkennen konnte er nichts. Er wusste, dass eine hölzerne Stiege nach unten führte, doch auch davon war vor lauter Dunkelheit nichts zu sehen. Ihm war, als schaute er in sternenlose Nacht. Von Schwindel ergriffen, riss er seinen Blick von der Dunkelheit los. Im selben Moment hallte ein Schrei aus der Tiefe, der wie das Wiehern eines wild gewordenen Riesenpferdes klang. Immer lauter schwoll der Schrei an, bis er MacNeils Knochen zum Schwingen brachte. Dann brach er so urplötzlich ab, dass die Stille, die sich daran anschloss, überaus laut zu sein schien. MacNeil warf die Klappe zu, schob die Riegel vor und wich zurück. »Was zum Teufel war das denn?«, flüsterte der Tänzer. »Das Biest«, sagte Constance. »Es dämmert im Halbschlaf vor sich hin.« »Willst du wirklich da runter, Duncan?«, fragte Flint und starrte wie gebannt auf die Falltür. »Ich weiß nicht«, antwortete MacNeil. »Aber mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig. Nur so lässt sich herausfinden, wo das Gold und die verschwundenen Leichen geblieben sind.« »Ich bin nur am Gold interessiert, wenn ihr mich fragt«, bemerkte Hammer. Die vier Ranger fuhren mit den Köpfen herum und sahen Hammer, Wilde und Vogelscheuchen-Jack vor der offenen Kellertür stehen. Wilde hatte einen Pfeil aufgelegt und den Bogen gespannt. »Kommt näher«, sagte Constance lächelnd. »Wir haben auf euch gewartet.« Hammer kniff die Brauen zusammen. An MacNeil gewandt, sagte er: »Legt eure Schwerter ab. Wilde, unser Meisterschütze, ist sehr schnell und schießt nie daneben.« Der Tänzer kicherte. »Und ich bin ein Meister mit dem Schwert. Sag ihm, er soll den Bogen ablegen, sonst sorg ich dafür, dass er ihn frisst.« Wilde zeigte sich unbeeindruckt. »Mit einem Schwertmeister bin ich auch schon fertig geworden. Es war nicht schwieriger als ein ganz gewöhnlicher Kampf Mann gegen Mann.« Die Augen des Tänzers verjüngten sich zu Schlitzen. »Du warst das also. So weit ich weiß, war aber die Lage damals eine ganz andere. Nun ja, wer weiß. Komm, Wilde, versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.« Wilde grinste aus freudlosen Augen. »Lass es lieber bleiben, Edmond«, sagte Flint und trat einen Schritt vor, um sich Wilde zu zeigen. Er war überrascht, sie zu sehen, und senkte den Bogen. »Hallo, Jessica. Wir haben uns lange nicht getroffen, nicht wahr?« »Neun oder zehn Jahre.« »Stimmt. Ist schon ein Weilchen her. Du siehst gut aus, Jess.« »Moment mal.« Der Tänzer ließ den Blick zwischen Flint und Wilde hin und her pendeln. »Ihr kennt euch?« »O ja, sehr gut sogar«, antwortete Wilde grinsend. »Was meinst du, Jess?« »Das ist lange her«, sagte Flint. »Seitdem hat sich einiges geändert. Du zum Beispiel, Edmond. Wie kommt's, dass du dich mit einem Schuft wie Hammer herumtreibst?« Wilde ließ die Schultern zucken. »Ich bin ihm was schuldig.« »Du warst ein Held«, sagte Flint. »Was ist nur passiert?« »So vieles, dass ich darüber die Orientierung verloren habe«, antwortete Wilde. »Verzeiht, wenn ich mich in eure private Wiedersehensfeier einmische«, sagte Hammer. »Aber ich habe hier Geschäfte zu erledigen.«  »Willst du's dir nicht noch mal überlegen?«, fragte Jack leise. »Vier Ranger, und einer von ihnen ist Schwertmeister. Unsere Chancen stehen schlecht, Hammer. Ich schlage vor, wir ziehen uns schnellstens zurück.« »Halt's Maul«, blaffte Hammer. »Sergeant MacNeil, vielleicht sollten wir mal ein paar Takte miteinander reden. Unter vier Augen.« »Gute Idee«, sagte MacNeil. »Da vorne bei der Falltür wären wir ungestört.« Hammer nickte. »Waffenstillstand. Einstweilen.« »Einverstanden«, sagte MacNeil und steckte sein Schwert in die Scheide. Hammer tat es ihm mit einer kleinen Verzögerung gleich. Das übergroße Heft des Langschwertes ragte über seine Schulter, als spottete es über alle, die sich mit ihm anzulegen wagten. Hammer reichte Jack die Laterne und ging zur verabredeten Stelle. Flint tippte MacNeil auf den Arm, beugte sich an sein Ohr und flüsterte ihm zu: »Nimm dich vor ihm in Acht, Duncan. Auf sein Wort ist kein Verlass.« »Danke für den Hinweis«, antwortete MacNeil. »Leider können wir auf ihn nicht verzichten, wenn wir uns dem stellen wollen, was da in der Erde lauert. Und tu mir einen Gefallen, Jessica, kümmere dich um Wilde, solange ich mit Hammer rede. Ja?« »Natürlich. Kein Problem.« MacNeil trat auf Hammer zu. Schweigend standen sie sich gegenüber und taxierten einander. Beide waren in etwa gleich groß und kräftig gebaut. Als die erfahrenen Kämpfer, die sie waren, wussten sie die Qualitäten des jeweils anderen ziemlich genau einzuschätzen. Hammer war beeindruckt von der ruhigen, selbstsicheren Kraft, die der Ranger-Sergeant ausstrahlte, hatte aber trotzdem keinen Zweifel daran, dass er ihn würde bezwingen können. Ihm war am Ende jeder unterlegen. Also konnte er es sich getrost leisten, den Gentleman zu spielen und dem Ranger Honig ums Maul zu schmieren. Sie waren aufeinander angewiesen. Fürs Erste. MacNeil wusste nicht, was er von Hammer halten sollte. Aber was dessen Langschwert zu bedeuten hatte, war ihm sehr wohl bewusst. Er hätte es auch ohne den Hinweis von Constance als Infernaleisen wiedererkannt. Aus der Nähe betrachtet kratzte das Schwert an seinen Nerven wie ein Schrei in der Stille der Nacht. MacNeil fragte sich, ob Hammer tatsächlich wusste, was er da auf dem Rücken trug. »Du willst das Gold«, sagte MacNeil geradeheraus. »Ich dagegen hab's auf das Biest abgesehen, das mit dem Gold zusammen hier unter uns steckt.« »Was für ein Biest?«, fragte Hammer. MacNeil nickte in Richtung Constance. »Unsere Hexe verfügt über Hellsicht. Sie sagt, dass ein uraltes, bösartiges Ungeheuer unter dem Fort vergraben liegt und schläft. Sie nennt es das Biest. Es hat Schuld an dem, was hier geschah.« »Bist du mit diesem Biest etwa schon in Berührung gekommen?«, fragte Hammer und starrte auf das Blut an MacNeils Kleidern. »Als wir die Falltür zum ersten Mal geöffnet haben, spritzte jede Menge Blut daraus empor. In den Stollen unter dem Keller trieft es davon.« Hammer runzelte die Stirn. »Wo kommt es her?« »Von dem Biest«, antwortete MacNeil. »Es weiß, was uns Angst macht.« Hammer wiegte den Kopf. »Du willst, dass wir uns zusammentun und es vernichten. Hab ich Recht?« »Ja.« »Verstehe. Und was hab ich davon?« »Für deine Hilfe, das Gold zu bergen, wirst du eine Belohnung bekommen«, antwortete MacNeil. Hammer grinste. »Warum sollte ich mich mit einem Bruchteil zufrieden geben, wenn ich alles haben kann?« »Weil du, um daran zu kommen, sowohl uns als auch das Biest überwinden müsstest, und deine Chancen dafür stehen nicht annähernd so gut, wie du glaubst. Wilde ist ein guter Schütze, aber wir haben den Tänzer auf unserer Seite. Und zugegeben, dein Schwert ist sehr beeindruckend, du hast aber nicht den leisesten Schimmer davon, was da unten in den Stollen auf dich lauert.« Hammer kniff die Brauen zusammen. »Was weißt du über mein Schwert?« »Es ist ein Infernaleisen.« Hammer nickte bedächtig. »Ja. Der Wolfsfluch.« »Ich dachte, es wäre im Dämonenkrieg verloren gegangen.« »Das war es auch. Aber ich habe es gefunden. Oder richtiger: Es hat mich gefunden.« Er fing plötzlich leicht zu zittern an, und einen Moment lang verrieten seine Augen einen verzweifelten, gequälten Blick, der jedoch, kaum dass MacNeil darauf aufmerksam wurde, sofort wieder verschwand. »Sei's drum, ziehen wir an einem Strang. Ihr scheint euch besser mit dem Biest auszukennen. Was unternehmen wir als Erstes?« »Zuerst werden wir, du und ich, durch die Falltür nach unten steigen und nachsehen, wie die Dinge stehen.« Hammer taxierte MacNeil mit skeptischer Miene. »Nur wir beide?«  MacNeil schmunzelte. »Wo ist dein Sinn für Abenteuer, Hammer? Unsere Hexe sagt, dass das Biest noch schläft. Zu zweit könnten wir leise heranschleichen, ohne dass es aufwacht. Und außerdem… in diesem Fort passieren seltsame Dinge. Es könnte sein, dass uns das Biest mit dem Gold einen Köder ausgelegt hat. Wenn dem so ist, möchte ich nicht, dass wir alle auf einmal nach unten steigen. Auf einem Pack zusammen wären wir in den engen Gängen sehr viel leichter angreifbar. Mir ist wohler, wenn ich weiß, dass uns jemand den Rücken freihält.« »Also gut«, sagte Hammer. »Machen wir's so.« MacNeil warf einen Blick auf Flint und den Tänzer, die sich mit Wilde unterhielten. Die drei schienen sich gut zu verstehen. Jedenfalls waren die beiden Männer nicht mehr darauf aus, sich gegenseitig umzubringen. Anfangs hatte Flint nicht gewusst, was sie sagen sollte, als sie sich diesem Wilde gegenübersah. Kümmere dich um ihn, hatte MacNeil gesagt. Aber womit zum Teufel sollte sie ein Gespräch anfangen. Der Mann, der vor ihr stand, hatte mit dem Wilde, wie sie ihn aus der letzten großen Schlacht des Dämonenkrieges in Erinnerung hatte, nicht mehr viel gemein. Er war zwar auch damals schon ungehobelt und vulgär gewesen, gleichzeitig aber im Umgang mit anderen ganz und gar aufrichtig und ehrlich. Heute trug Wilde ein Gesicht, das auffällig hart und müde war und um Mund und Augen Züge von praktizierter Brutalität verriet. »Du siehst gut aus, Jess«, sagte Wilde. Seit wann bist du bei den Rangern?« »Seit ungefähr acht Jahren. Vielleicht ein bisschen länger. Und seit wann ziehst du als Räuber durch die Gegend?« Wilde zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr. Ein Jahr ist wie jedes andere.« An Flint gewandt, bemerkte der Tänzer: »Ich wusste gar nicht, dass du Edmond Wilde kennst.« Wilde grinste. »Wie sich die Zeiten doch ändern, nicht wahr, Jess? Früher hat sich jeder damit gebrüstet, mich zu kennen. Heute wollen selbst ehemalige Freunde nichts mehr mit mir zu tun haben. Die Welt ist doch grausam, oder?« Flint rührte keine Miene. »Du bist nicht der Mann, den ich von früher kenne. Der hat nicht vergewaltigt und getötet.« »So gut hast du mich nie gekannt«, entgegnete Wilde. »Ich bin erleichtert«, sagte der Tänzer. »Es hätte mir nicht gefallen zu erfahren, dass du dich mit üblen Vögeln herumgetrieben hast.« »Du glaubst wohl, so was steckt an«, entgegnete Wilde. »Sieh dich vor«, warnte der Tänzer im Flüsterton. »Komm Jessica nur ja nicht zu nahe.« Wilde lachte. »Wenn ich wollte, würde ich sie mir nehmen. Nichts und niemand könnte mich aufhalten. Ich gehe mit meinem Bogen geschickter um als du mit deinem Schwert. Mir kann keiner was.« Flint ließ eine Hand auf den Arm des Tänzers sinken, als der nach dem Schwert griff. »Lass stecken, Giles. Wir brauchen ihn noch.« Der Tänzer sah sie mit ausdrucksloser Miene an. »Keine Sorge, Jessica. Er hat nichts von mir zu befürchten. Vorerst nicht.« Er kehrte Wilde den Rücken zu und entfernte sich. Wilde sah ihm grinsend nach. »Den Tänzer so zu reizen, ist saudumm«, sagte Flint. »Mit ihm werde ich schon noch fertig.« »Nein«, antwortete Flint. »Du hast keine Chance gegen ihn. Er würde dich töten.« »Würde dir das denn was ausmachen?«, fragte Wilde. »Es ist lange her, dass man sich meinetwegen Sorgen gemacht hat.« »Man hat nur wenig Freunde auf der Welt und sollte aufpassen, dass einem von den wenigen nicht noch einer verloren geht.« »Und wenn er ein Geächteter ist?« »Auch dann nicht, Edmond. Ich weiß noch, wie wir gegen die Dämonen gekämpft haben, Rücken an Rücken, vor den Mauern der Burg, die ganze Nacht lang. Es wurde dir sogar ein Lied gewidmet.« »Es wird bestimmt nicht mehr gesungen.« Wilde lächelte und sein Gesicht zeigte auch wieder ein paar freundliche Züge. »Ich war einmal sehr verliebt in dich, Jess, und du hast mich angeblich auch geliebt; du hast es jedenfalls gesagt.« »Das ist lange her«, antwortete Flint. »Wir waren damals ganz anders.« »Wirklich?«, fragte Wilde, doch Flint hatte sich schon entfernt und ging zu ihrem Partner. Unterdessen waren auch Vogelscheuchen-Jack und die Hexe miteinander ins Gespräch gekommen. Sie hatte ihm geholfen, Fackel und Laterne sicher zu deponieren, wofür er sich schüchtern bedankte. Constance berichtete ihm daraufhin, was sie über das Biest wusste, und bekam von ihm zu hören, dass er schon einiges von dem, was sie sagte, geahnt hatte. Die Hexe fand seinen magischen Natursinn faszinierend und ließ sich dadurch nicht im Geringsten verunsichern, denn Jacks Einvernehmen mit dem Wald war etwas völlig anderes als die Hohe Magie, mit der sie sich zeit ihres Lebens beschäftigte. Er verdankte seine Fähigkeiten der "Wilden Magie, jenen alten, naturwüchsigen Kräften, die den Menschen an seine Wirklichkeit binden. Es irritierte sie allerdings zu erfahren, dass Jack anscheinend ebenso viel Angst vor dem Biest hatte wie sie. Wenn schon eine lebende Legende wie Vogelscheuchen-Jack nicht mehr wusste, wie er sich davor schützen mochte, was hatte sie dann noch zu hoffen? Constance ließ diesen Gedanken nicht näher an sich heran. Sie wollte sich erst zu gegebener Zeit um das Biest sorgen und schlug ein anderes Thema an. Während sie und Jack miteinander redeten, schaute sie kein einziges Mal in Richtung Falltür. MacNeil schob die beiden Riegel beiseite und hob die Falltür an. Sofort entstieg ihr ein fauliger Gestank, der sich im Keller breit machte. MacNeil klappte die Tür ganz auf und trat einen Schritt zurück. Jack schlug eine Hand vor den Mund und versuchte so, die schlechte Luft zu filtern. Hammer starrte in die Öffnung, die Hand am Heft des seitlich gegürteten Schwertes. »Das stinkt ja nach Verwesung«, sagte er. »Würde mich nicht wundern, wenn wir auf Kadaver treffen«, meinte MacNeil. Er nahm seine Laterne zur Hand, kniete sich vor der Öffnung auf den Boden und senkte das Licht ins Dunkle, um Hammer die blutverkrusteten Wände des Schachtes zu zeigen. »Das ist eine Falle«, sagte Hammer. »Wer oder was da unten steckt, erwartet uns offenbar schon. Es lauert uns auf.« »Möglich«, stimmte MacNeil zu. »Ich gehe trotzdem. Es sei denn, du hast eine bessere Idee.« Hammer wollte etwas sagen, hielt sich aber damit zurück und starrte unverwandt in den Lukenausschnitt. MacNeil richtete sich wieder auf. »Ich komme mit.« MacNeil und Hammer drehten sich um und sahen Jack hinter sich stehen, was sie einigermaßen erschreckte, denn keiner von ihnen hatte ihn kommen hören. Jack sagte nichts weiter; er stand einfach nur da, lächelte freundlich und wartete auf eine Reaktion der beiden. MacNeil betrachtete ihn mit nachdenklicher Miene. Das also war Vogelscheuchen-Jack, der legendäre Waldmensch. Er sah allerdings nicht annähernd so beeindruckend aus, wie MacNeil ihn sich vorgestellt hatte. Seine Kleider waren kaum mehr als Lumpen, und es schien, dass er sich erst kürzlich im Schlamm gesuhlt hatte. Dem Geruch nach zu urteilen war er aber anscheinend seit seiner Taufe nicht mehr mit klarem Wasser in Berührung gekommen. Trotzdem hatte er etwas an sich, das Vertrauen erweckte — obwohl er ein Komplize Hammers war. MacNeil zuckte im Geiste mit den Achseln. Wenn Jack auch nur halbwegs an sein legendäres Format heranreichte, würde er in den finsteren Stollen unter dem Keller bestimmt sehr nützlich sein können. »Ich habe schon viel von dir gehört, Jack«, sagte er schließlich. »Darum wundert es mich, dass du dich auf so einen Kampf einlassen willst.« »Dieser Kampf geht uns alle an«, antwortete Jack in ruhigem Tonfall. »Wenn wir zulassen, dass das Biest aufwacht, wird es den Wald vernichten und alle, die darin leben. Ihr werdet mich da unten gebrauchen können, Sergeant. Da bin ich mir sicher.« »Er hat Recht«, sagte Constance. »Ich kann nicht mitkommen. Meine Magie macht mich für das Biest besonders verwundbar. Jack dagegen hat Anteil an der Wilden Magie. Er kann dir helfen und Wege weisen, die mir verschlossen sind.« MacNeil warf einen Blick auf Hammer, der sich jedoch gleichgültig zeigte. »Also gut«, sagte MacNeil. Aber falls wir gezwungen sind, unser Schwert zu ziehen, solltest du so schnell wie möglich Platz machen. Ist das klar, Jack?« »Ja«, antwortete Jack, den Blick nach wie vor in das dunkle Loch gerichtet. »Wer geht zuerst?« »Ich«, sagte MacNeil. »Das gehört zu meinem Job.« Er überprüfte, ob die Kerze in seiner Laterne noch lang genug war, nahm sein Schwert zur Hand und stieg vorsichtig auf die erste Stufe der blutverschmierten Stiege. Das Holzbrett knarrte unter seiner Last. MacNeil wartete einen Augenblick lang und kletterte dann über die Stiege nach unten. Das Laternenlicht enthüllte eine weitere Folge von Stufen, die ins Dunkle hinabführten. Auch Hammer zückte sein Schwert, ehe er durch die Luke stieg. Jack zog seine Fackel aus dem Ring an der Wand und machte sich hinter Hammer auf den Weg nach unten. Auf halber Strecke warf MacNeil einen Blick zurück. »Zieh lieber das andere Schwert, Hammer. Du wirst es hier unten brauchen.« »Nein, noch nicht.« »Ich hab gesehen, was da unten haust. Da sind riesige kriechende Ungeheuer…« »Ich sagte: noch nicht. Ich zieh die Waffe, wenn es unbedingt sein muss. Keinen Moment früher. Nicht nur das Biest hat einen leichten Schlaf.« MacNeil erinnerte sich an Gerüchte über die Infernaleisen, die während des Dämonenkriegs die Runde gemacht hatten, und es fröstelte ihn. Es hieß nämlich, dass die verfluchten Schwerter eine noch viel größere Bedrohung darstellten als die Dämonen. MacNeil straffte die Schultern und setzte seinen Weg nach unten fort. Als von den dreien nichts mehr zu sehen und auch noch das Licht der Laterne verschwunden war, schlössen Flint und der Tänzer die schwere Klappe aus Eichenbrettern zu.  »Ihr solltet lieber auch die Riegel vorlegen«, meinte Wilde. Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Wenn's brenzlich wird, muss die Tür schnell aufzuklappen sein.« »Was, wenn sie nicht allein zurückkommen?« Der Tänzer schmunzelte. »Beunruhigt?« »Sieh dich vor«, knurrte Wilde. »Wenn das hier vorbei ist, werde ich dir mit Vergnügen deine Selbstgefälligkeit in Fetzen zerreißen.« »Träum weiter«, entgegnete der Tänzer, ohne die Falltür aus dem Auge zu lassen. »Wir geben ihnen eine Stunde Zeit. Wenn sie dann noch nicht zurück sind, machen wir uns auf die Suche nach ihnen.« »Einverstanden«, sagte Flint. »Für uns wär's vielleicht besser, wenn wir abschieben und eurer Verstärkung Bescheid geben würden«, meinte Wilde. »Das kannst du ja tun«, sagte der Tänzer. »Wir sind Ranger, und Ranger laufen nicht davon. Was wir einmal angefangen haben, wird zu Ende geführt. Wir kennen unsere Pflicht.« »Und außerdem ist Duncan unser Freund«, fügte Flint hinzu. »Wir würden ihn nie im Stich lassen. Und falls er umkommen sollte, werden wir ihn rächen.« »Wenn nur irgend möglich«, sagte Constance. Das Biest Die Stiege schien nicht enden zu wollen. Das schüttere Licht der Laterne, die MacNeil am langen Arm vor sich her trug, kam gegen die Dunkelheit kaum an. Auch Jacks Fackel half nicht viel weiter, doch immerhin war das Knistern der Flamme ein tröstlich vertrautes Geräusch. MacNeil setzte jeden Schritt mit Bedacht und ließ sich auch nicht durch Hammer, der ihm dichtauf folgte, zur Eile drängen. Die Blutlachen auf den Stufen waren zu Eis gefroren und entsprechend rutschig. Im Stillen zählte MacNeil die Stufen mit und sehnte den Augenblick herbei, da er endlich wieder ebenen Boden würde betreten können. Er wusste: Es waren dreizehn Stufen. Für manche eine Unglückszahl. Unten angelangt, stellte er jedoch fest, dass auf die dreizehnte noch eine weitere Stufe folgte. Sein Puls beschleunigte sich und er musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig durchzuatmen. Offenbar hatte er sich beim ersten Gang verzählt; kein Grund zur Sorge. Eine Stufe mehr oder weniger… Aber mit der vierzehnten war die Stiege immer noch nicht zu Ende. Auch nicht nach der zwanzigsten… MacNeil blieb stehen und leuchtete mit der Laterne. Die Stiege fiel weiter ab ins Dunkle, und ein Ende des Schachts war nicht abzusehen. »Was ist los?«, wollte Hammer wissen. »Warum bist du stehen geblieben?« »Die Stiege…«, antwortete MacNeil. »Sie hat plötzlich viel mehr Stufen. Das Biest scheint wieder zu träumen.« »Was machen wir da?«, fragte Jack. »Weitergehen und hoffen, dass wir irgendwann ans Ziel kommen?« »Was bleibt uns anderes übrig?«, sagte MacNeil. »Es gibt keinen anderen Abstieg. Los, weiter. Es ist kalt hier.« »Kalt wie in einem Grab«, meinte Jack. MacNeil tat so, als hätte er nichts gehört und setzte sich wieder in Bewegung. Nach einer Weile hörte er zu zählen auf. Die hohen Zahlen machten ihn nur nervös. Sie waren schon sehr weit hinabgestiegen, doch die Stufen führten immer tiefer ins Dunkle. Es war bitterkalt und die Kälte nahm noch zu. Der Atem dampfte MacNeil in dicken Wolken vorm Mund. Raureif bildete sich an Haaren und Kleidern. Das Gesicht und die Hände waren ganz taub geworden und er musste fest zupacken, um das Schwert und die Laterne nicht aus den Händen zu verlieren. Der Verwesungsgeruch war zwar unvermindert stark, schien aber eine andere Note anzunehmen, die MacNeil sehr irritierend fand, unangenehm und lästig wie ein hartnäckiger Juckreiz. Der Gestank setzte ihm dermaßen zu, dass er drauf und dran war, mit dem Schwert in der Luft herumzuschlagen. Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten… MacNeil klammerte die Hand fest um den Schwertgriff, bis ihm die Finger schmerzten. Der Gestank, die Dunkelheit und das permanente Gefühl von Bedrohung erinnerten ihn an die Zeiten von Finsterholz, und für einen Augenblick meldete sich die alte Angst, die er aber sofort wieder abschüttelte. Er ging weiter und traf wenig später mit dem Fuß auf eine unebene Oberfläche. Im goldenen Licht der Laterne sah er die Öffnung eines Tunnels mit Wänden aus Erde. Vorsichtig rückte er näher und wartete darauf, dass die anderen zu ihm aufschlössen. Es war nicht der Tunnel, an den er sich erinnerte. Dieser hier war breiter und maß gut und gern drei Schritt im Durchmesser. In Decke und Wänden hatten sich lange Risse gebildet, aus denen Erde bröckelte. Es schien, als drohte der Stollen jeden Moment in sich zusammenzustürzen. »Nicht viel Platz zum Kämpfen«, sagte Hammer plötzlich und versetzte MacNeil damit einen Schreck. »Nervös?«, grinste Hammer. »Aus gutem Grund«, knurrte MacNeil. »Beim letzten Mal bin ich hier auf eine böse Überraschung getroffen.« Er schaute sich um. »Aber das war in einem anderen Stollen, in einem, der viel kleiner war, mit blutverschmierten Wänden… Vielleicht finden wir hier Hinweise auf die verschwundenen Leichen.« »Oder das Gold«, sagte Hammer. »Das sollten wir nicht vergessen.« Er schürfte prüfend mit der Hand über die Wand, die unter seinen Fingern zerkrümelte. »Pfuscharbeit«, sagte er. »'ne Verschalung wäre das Mindeste gewesen.« MacNeil sah ihn an. »Dieser Tunnel ist nicht von Menschen gebaut worden, Hammer, genauso wenig wie die Stiege. Das Biest rührt sich im Schlaf und wir laufen durch einen seinen Träume.« Hammer schnaubte und stampfte mit dem Fuß auf den fest getretenen Stollenboden. »Ziemlich wirklichkeitsnah, dieser Traum.« »Ja«, erwiderte Jack leise. »Hoffen wir, dass das Biest keine Albträume bekommt.« Die drei Männer tauschten flüchtige Blicke. Hammers Hand griff nach dem Heft des Langschwertes, blieb aber auf halbem Weg stehen und fiel zurück. MacNeil räusperte sich, um zu überspielen, dass seine Stimme vor Beklommenheit ganz wacklig war. »Kommt, weiter. Wir haben noch nichts erreicht, und womöglich wacht schon bald das Biest auf.« »Mir kommt gerade ein unangenehmer Gedanke«, sagte Jack. »Wenn wir uns im Traum des Biests befinden, und es wacht auf… was wird dann aus diesem Tunnel?« MacNeil warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Tu uns einen Gefallen und behalte deine unangenehmen Gedanken in Zukunft lieber für dich. Woher zum Teufel soll ich wissen, was passieren wird? Fürs Erste ist der Stollen greifbar und wirklich genug. Nur daraufkommt's an. Los jetzt. Wir vergeuden nur kostbare Zeit.« Er ging weiter und trug die Laterne vor sich her, deren milder Schein erkennen ließ, dass sich der Tunnel geradeaus und mit leichtem Gefälle ins Dunkle erstreckte. Furcht war für MacNeil immer eine beschämende Schwäche gewesen, der man nicht nachgeben durfte. Ein Problem, vor das man sich gestellt sah, galt es zu lösen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn auch das nicht half, war man aufgefordert, es nach einer Weile erneut zu versuchen, notfalls immer und immer wieder, bis sich endlich Erfolg einstellte. Aber wirklich große Furcht, überwältigende, lähmende Angst - die glaubte MacNeil bislang nie erfahren zu haben, allenfalls bei anderen, über die er dann die Nase rümpfte. Tief im Innern aber spürte er, dass dem nicht so war, dass auch ihn eine solche Angst einmal heimgesucht hatte, nämlich während der langen Nacht, als die Dämonen massenhaft aus der Dunkelheit hervorgeschwärmt waren und er mit seinem Schwert hatte dagegen halten müssen, obwohl er am liebsten schnell weggelaufen wäre. Und vielleicht hätte er tatsächlich Reißaus genommen, wäre nicht zu seiner Rettung der Blaumond unter- und die Sonne aufgegangen. Sonst hätte er womöglich Reißaus genommen… Jetzt tappte er wieder im Dunkeln, umzingelt von Tod und Verwesung und in der Absicht, ein Ungeheuer zu erschlagen, das älter und mächtiger war als alle Dämonen zusammengenommen. Und weil er sich tief unter der Erdoberfläche befand, würde diesmal nicht auf Rettung in Gestalt der aufgehenden Sonne zu hoffen sein. Nagende Furcht wand sich durch sein Gedärm und ließ kalten Schweiß auf die Stirn treten. Er spürte, wie die Hände zitterten, der Atem fahrig wurde. Die Angst war kaum zu bändigen. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und das Weite gesucht. Niemand würde ihm deswegen Vorwürfe machen. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten hätten bestimmt Verständnis für ihn, wenn er ihnen die Umstände schilderte. Manche würden wahrscheinlich sogar sagen, dass er das einzig Sinnvolle getan hätte. Allein, er brachte es nicht über sich wegzulaufen. Constance hatte gesagt, dass das Biest erschlagen werden müsse, bevor es zu spät wäre und es erwachte. Und MacNeil glaubte ihr. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen, und solange er sein Schwert fuhren konnte, würde er das tun, was er als das Richtige erkannt hatte. Gleichgültig, wie groß seine Furcht auch sein mochte. Das Gefälle des Stollens nahm zu. MacNeil versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, wie tief er mittlerweile vorgedrungen war und welche Massen an Erde und Gestein auf dem Stollen lasteten. »Wie weit runter müssen wir denn noch?«, murrte Hammer. »Wir sind doch schon eine Ewigkeit unterwegs.« »Bald ist es geschafft«, antwortete Jack. »Wir sind nahe dran.« MacNeil blieb plötzlich stehen und drehte sich um. »Constance sagte, dass du… Fähigkeiten hättest, die uns helfen könnten. Was sind das für Fähigkeiten, Jack? Bist du etwa auch hellsichtig?« Jack zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab ein ganz gutes Gespür für den Wald und alles, was darin lebt. Und manchmal, in Ausnahmefällen, leihen mir die Bäume ihre Kraft, damit ich tun kann, was zu tun ist.« MacNeil sah ihn aufmerksam an. »Spürst du irgendwas im Zusammenhang mit diesem Ort hier? Mit dem Biest?« »Da ist etwas, nicht weit entfernt«, antwortete Jack mit entrücktem Blick. »Es schläft, weiß aber, dass wir uns nähern. Es ist sehr kalt. Und sehr hungrig…« Wie zur Bestätigung gellte ein schrilles Wiehern aus der Tiefe, ein Schrei wie von einem rasenden Riesenpferd, so unerträglich laut, dass sich die drei Männer unwillkürlich die Ohren zuhielten. Der Schrei dauerte an, unnatürlich lange, brach aber dann urplötzlich ab. Das Echo hallte noch eine Weile nach, und schließlich war es wieder still. Die drei nahmen die Hände von den Ohren. An Hammer gewandt, sagte MacNeil: »Es wird Zeit, dass du dein Schwert ziehst. Das Eisen.« »Nein«, entgegnete Hammer. »Noch nicht.« »Wir brauchen es.« »Du verstehst nicht«, entgegnete Hammer müde. »Du hast nicht die geringste Ahnung.« Im Keller hockte Wilde auf einem Haufen Schrott und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Er konnte es nicht leiden, warten zu müssen. Nichts tun zu können ging ihm auf die Nerven. Er hantierte an seinem Bogen herum, prüfte zum hundertsten Mal die Spannung der Sehne und griff immer wieder nach seinem Schwert. Flint und der Tänzer saßen neben der Falltür. Ihnen schien das lange Warten nichts auszumachen. Sie wirkten entspannt und unterhielten sich leise. Wilde musterte die beiden und lächelte. Jessica hatte immer schon starke Nerven gehabt. Er erinnerte sich, wie sie zum Ende des Dämonenkrieges abseits und allein in einer Ecke des Burghofes ausgeharrt und daraufgewartet hatte, dass sich das große Tor zur Entscheidungsschlacht öffnete. Sie hatte großartig ausgesehen in ihrem glänzenden Kettenhemd und den pechschwarzen, zu einem Pferdeschwanz zusammen gefassten Haaren. Auch damals war ihr Gesicht vollkommen entspannt gewesen, als sie mit Bedacht und langsamen Bewegungen die Schneide ihres Schwertes geschärft hatte. Er dagegen war unruhig auf- und abgelaufen, schweißgebadet und fast außer sich vor Angst. Doch beschämt von ihrer Ruhe und Gelassenheit, hatte er sich zusammengerissen und seine Fassung wiedergewonnen. Ihre Zuversicht hatte ihm geholfen. Das blieb ihm unvergessen. Jetzt waren sie wieder zusammen und rüsteten sich ein weiteres Mal zum Kampf. Die Lage war kaum eine andere, dafür aber hatten sich die beteiligten Personen verändert. Insbesondere er selbst. Er seufzte leise und schüttelte den Gedanken ab. Das Vergangene war nicht zurückzuholen und darum am besten aus dem Gedächtnis zu streichen. Er richtete den Blick auf Giles, den Tänzer. Den hatte er sich immer sehr viel größer vorgestellt. Immerhin war dieser Mann Schwertmeister und von legendärem Ruf, einer, der unzählig viele Gegner im Kampf getötet hatte. Dabei sah er, aus der Nähe betrachtet, ziemlich durchschnittlich aus. Leute wie ihn traf man in jedem Wirtshaus gleich im Dutzend an. Wilde schmunzelte. Der Schwertmeister Sir Guillain hatte auch nicht besonders eindrucksvoll ausgesehen; doch wenn der in Raserei geraten war, hatte ihn nicht einmal die gesamt Königsgarde in Schach halten können. Das war erst mit seiner, Wildes, Hilfe möglich gewesen. Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht, als er darüber nachdachte, dass er jetzt an Giles Stelle sein und sich mit Jessica unterhalten und amüsieren könnte. Vor nur zehn Jahren war er noch als Held gefeiert worden, und Jessica war stolz daraufgewesen, an seiner Seite zu stehen. Doch seinen Platz neben Jessica hatte jetzt der Tänzer eingenommen und er selbst wurde geächtet. Wilde zupfte an der gespannten Bogensehne. Darin steckte gebündelte Kraft - das spürte er in den Fingerspitzen -, Kraft, die verletzen, töten und alles, was Widerstand leistete, gefügig machen konnte. Wahrscheinlich würde es bald zum Kampf kommen. Und wer mochte ihm dann verübeln, wenn in heilloser Hektik einer seiner Pfeile aus Versehen den verdammten Schwertmeister niederstreckte? Ohne ihren Tänzer wären die Ranger aufgeschmissen. Wilde grinste. Er würde ihnen das Gold abjagen, sich von Hammer freikaufen und Jess zurückgewinnen. Er würde ihr schon noch klarmachen, dass sie an seine Seite gehörte. Constance lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand und beobachtete Wilde aus den Augenwinkeln heraus. Von den drei Banditen machte ihr Wilde die meisten Sorgen. Hammer war gefährlich, aber leicht zu durchschauen. Vogelscheuchen-Jack wurde offenbar von Hammer zur Komplizenschaft genötigt. Doch dieser Wilde… er strahlte etwas Unheimliches aus. Während seines ersten Wortwechsels mit Flint hatte seine Stimme einen trauernden Ton anklingen lassen. Doch jetzt verriet sein Gesicht eine rohe, erbarmungslose Brutalität, die Constance dazu drängte, sich mit einem Schwert zu wappnen. Wenn er so töricht wäre, sich an ihr zu vergreifen, würde er bald feststellen müssen, dass ihr mehr als genug Zauberkraft zu Gebote stand, um sich gegen ihn durchzusetzen. Trotzdem, Wilde hatte etwas an sich, das sie abstieß und zugleich anzog. Anscheinend spürte sie, dass seine Verrohung auf eine bemitleidenswerte Tragödie zurückzuführen war. Die Hexe schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die zugeklappte Falltür in der Mitte des Raumes. Am liebsten hätte sie Duncan begleitet. Doch die Vernunft ging vor. Sie wusste um ihre Verletzlichkeit gegenüber dem Biest, auch wenn es noch schlief. Ihr Beisein hätte Duncan zusätzlich gefährdet, und die Gefahr, in der er schwebte, war ohnehin groß genug, zumal sie zum Teil von ihm selbst ausging. Denn er ließ keine Schwäche an sich gelten und war gewissermaßen so hart wie starres Eisen, das aber zu zerbrechen drohte, wenn es unter Druck nicht auch ein Stück nachgeben konnte. Duncan, pass auf, was sich in deinem Rücken abspielt. Und komm sicher wieder zurück. Flint und der Tänzer saßen Seite an Seite und warteten geduldig auf ihren Einsatz. Flint polierte die Klinge ihres Schwertes mit einem Lappen, was zwar nicht nötig war, aber in der monotonen Bewegung doch beruhigend wirkte. Der Tänzer saß einfach nur da, entspannt und dennoch jeder Zeit bereit, zum Schwert zu greifen, das auf seinen Schenkeln lag. Er zeigte keinerlei Nervosität, was typisch für ihn war. Er stierte vor sich hin, und Flint fragte sich wieder einmal, woran er in diesem Augenblick denken mochte. Seit fast acht Jahren waren sie Partne - und ein Paar. Trotzdem rätselte sie noch immer vergeblich, was ihm durch den Kopf ging, wenn er einen so entrückten Eindruck machte wie jetzt. Der Tänzer war ein seltsamer Vogel, der sich häufig in seine ganz persönliche Welt zurückzog. Flint zweifelte zwar nicht daran, dass er sie liebte, doch es war nicht immer leicht, mit ihm zurechtzukommen. Er redete nicht viel und überließ es gerne Flint, für ihn zu sprechen. Dabei war er beileibe nicht schwer von Begriff oder gar schüchtern. Er hatte einfach nicht viel zu sagen und ließ im Ernstfall lieber sein Schwert sprechen. »Giles…« »Ja?« »Glaubst du, sie schaffen es, das Biest zu töten?« Der Tänzer zuckte die Achseln. »Vielleicht. Hammer hat ein Infernaleisen. Solche Schwerter sind verdammt schlagkräftig.« »Aber… wenn es nicht schlagkräftig genug ist. Wie stehen dann unsere Chancen, das Ungeheuer zu erledigen?« »Ziemlich schlecht, würde ich meinen. Wir müssen'« trotzdem versuchen. Von uns hängt das Leben vieler Menschen ab.« »Wie schon so oft. Aber diesmal könnte es uns auch selbst erwischen.« »Berufsrisiko.« »Hast du keine Angst, Giles?« »Nein. Angst stört nur. Hast du etwa welche?« »Ja.« »Sei unbesorgt. Ich bin ja bei dir. Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert.« Sie drückte seine Hand und schaute ihm tief in die Augen. Plötzlich drang ein gellender, wiehernder Schrei durch die geschlossene Falltür und hallte durch den Kellerraum, so laut, dass die Eiskruste an den Wänden aufplatzte und die Zapfen von der Decke fielen. Im Nu standen Flint und der Tänzer auf den Füßen, die Schwerter kampfbereit in den Händen. Constance und Jack blickten aufgeschreckt umher, als suchten sie einen Feind, dem sie sich entgegenwerfen konnten. Der Schrei dauerte an, ohrenbetäubend laut und schrill. Dann aber verstummte er jäh. »Sie haben das Biest entdeckt«, sagte Wilde. »Womöglich sind sie auch selbst überrascht worden«, meinte die Hexe. Sie hob den Kopf und spitzte die Ohren, als sie in der Nähe eine Bewegung zu spüren glaubte. »Könnt ihr etwas hören?« Alle lauschten angestrengt in die Stille. Aus irgendeinem Teil des Forts tönte eine Reihe leiser, unregelmäßiger Geräusche. Flint und der Tänzer tauschten fragende Blicke. Wilde stand auf und legte einen Pfeil auf die Bogensehne. Flint sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein, Edmond. Du bleibst mit der Hexe hier unten und bewachst die Falltür. Giles und ich werden nach oben gehen und nach dem Rechten sehen.« Zuerst schien es, als wollte Wilde Protest einlegen, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und nahm wieder Platz. Flint widerstand dem Drang zu erklären, dass sie nicht etwa aus Misstrauen gegen ihn so entschied. Er hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Sie eilte zur Kellertür und stieß sie auf. Die Geräusche schienen für einen Augenblick zu verstummen. Der Tänzer reichte Flint eine der Fackeln, die in den Ringen an der Wand steckten. Sie nahm sie entgegen und ging die Treppe hinauf, die ins Parterre führte. Mit gezücktem Schwert folgte der Tänzer dichtauf. Constance machte hinter ihnen die Tür wieder zu. Augen und Ohren weit aufgesperrt, stiegen Flint und der Tänzer vorsichtig nach oben und gelangten in einen engen Gang. Das Fackellicht schien hier, oberhalb des Kellers, sehr viel weiter zu tragen und flackerte durch einen leeren Korridor, der sich vor ihnen auftat. Flint krauste die Stirn. Die Geräusche waren um einiges lauter, aber immer noch nicht zu deuten oder zu lokalisieren. In der Hauptsache handelte es sich um ein leises Schlurfen, das von überall und nirgends kam, zugleich von vorn und hinten. Mit Bestimmtheit wusste Flint nur, dass es keine natürlichen Geräusche waren. »Vielleicht sind's Ratten«, meinte der Tänzer. »Ratten in den Zwischenräumen der Mauern.« »Nein. Ratten hören sich anders an«, erwiderte Flint. »Kannst du ausmachen, woher die Laute kommen.« Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Jedenfalls kommt das, was sie verursacht, immer näher.« Flint starrte in den Gang. Schatten huschten umher und sprangen wie aufgescheucht nach vorn, sooft sie die Fackel schwenkte. Anfangs war die Kälte noch erträglich gewesen. Doch jetzt fielen die Temperaturen dramatisch ab. Die bizarren Raureifgebilde an den Wänden wurden sichtlich dicker und in der unbewegten Luft schwebte ein feiner Nebelschleier. Flint blieb jählings stehen. Der Tänzer schloss zu ihr auf und sah sie fragend an, konnte aber nicht erkennen, was ihr durch den Kopf ging. Nebel? Innerhalb der Burgmauern? Unmöglich. Nein, nicht so tief im Innern des Forts, so weit entfernt von der Außenluft… Das Biest träumt… es träumt von der Zeit, als es durch die Welt gegangen ist. Flint dachte an die Worte der Hexe und erschauderte. Wie lange schlief das Biest denn schon, wenn es von einer Zeit träumte, in der es nur Nebel, Eis und Kälte gegeben hatte? Flint hielt das Schwert gepackt und schüttelte den Kopf. Über solche Fragen wollte sie sich, wenn überhaupt, irgendwann später den Kopfzerbrechen, nicht jetzt. Jetzt galt es herauszufinden, woher diese verflixten Geräusche rührten und ob Gefahr davon ausging. Sie gab dem Tänzer zu verstehen, dass er zurückbleiben sollte, und ging langsam weiter. Schritt für Schritt hielt sie kurz inne, um zu lauschen. Die Geräusche wurden lauter und deutlicher; es schien, als näherten sie sich aus unbeschreiblicher Ferne. Darunter waren Laute, die wie ein Knurren, Fauchen und Zischen klangen und aus allen Richtungen zu kommen schienen, vom Boden, von der Decke und den Wänden. Dünne, lang gezogene Nebelschwaden schlängelten sich durch die Luft. Weil sie sich nicht allzu weit von ihrem Partner zu entfernen wagte, blieb Flint stehen und warf einen Blick zurück. Hinter ihr hatte sich der Nebel verdichtet, und von Giles war nur noch ein verschwommener Schatten zu erkennen. Flint eilte zurück. Die Schwerter in Bereitschaft, stellten sich die beiden Rücken an Rücken zueinander. »Die Geräusche werden immer lauter«, bemerkte der Tänzer ruhig. »Ja«, sagte Flint. »Und das gefällt mir nicht. Dahinter scheint… ein Plan zu stecken.« »Was schlägst du vor? Dass wir uns in den Keller zurückziehen?« »Ja. Hier sind wir allzu isoliert. Komm.« Vorsichtig kehrten sie Richtung Kellertür zurück, die hinter dichtem grauen Dunst verborgen lag. So laut und bedrohlich tönten die Geräusche inzwischen, dass es schien, als hätte ihr Verursacher alle Zurückhaltung aufgegeben. Flint glaubte schon, in den Nebelschwaden Bewegungen ausmachen zu können. Dicht gefolgt von Giles, strebte sie der Kellertür entgegen. Dem, was da in der Nähe war, wollte keiner von beiden den Rücken zukehren. Flint war froh, den Tänzer bei sich zu wissen. Dank seiner Gelassenheit konnte auch sie ruhig bleiben. Der Nebel wurde immer dichter und ballte sich zu milchig weißen Massen, aus denen ein gespenstisches Licht schimmerte. Darin bewegten sich Schatten, lange, hohe Schatten mit menschenähnlichen Umrissen. Sie traten mal mehr, mal weniger deutlich und in unbestimmter Anzahl in Erscheinung. Flint blickte ihren Partner an, um sich zu vergewissern, dass auch er die Schatten wahrnahm, und schöpfte Zuversicht aus seiner entspannten Miene und dem einsatzbereiten Schwert. Die Schatten rückten näher, doch Flint wagte es nicht, einen Schritt zuzulegen, denn sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie vor irgendwem Reißaus nahm. Plötzlich trat einer der Schatten aus dem Nebel hervor und vor sie hin. Flint blieb wie versteinert stehen, die Augen weit aufgerissen. Das Wesen überragte sie um etliches; es kauerte gebeugt über ihr, um nicht mit dem Kopf unter die Decke zu stoßen. Es war von einem schmutzigen Weiß und erschreckend dünn, sodass es aussah wie ein Sammelsurium aus Knochen. Das Gerippe wurde von langen, sehnigen Muskeln zusammengehalten, die sich unter der pergamentenen Haut wie Würmer wanden. Die Arme waren so lang, dass die knochigen, klauenhaft gebogenen Hände bis weit über die Knie herabbaumelten. Der lang gezogene Kopf lief zu einer spitzen Schnauze zusammen, die grinsend spitze Zähne fletschte. Anstelle von Augen besaß es Schlitze, purpurrot und ohne erkennbare Iris oder Pupille. Die Knochenfüße klackten laut auf dem steinernen Boden, als sich das Ungeheuer langsam auf die Ranger zubewegte. Das scheußliche Grinsen wurde breiter, als es gierig die Lefzen auseinander zog. »Was zum Teufel ist das?«, flüsterte der Tänzer. »Eine Art Dämon?« »Nein«, sagte Flint, merklich um Fassung bemüht. »Ich vermute, es lebt hier schon so lange wie das Biest. Etwas Ähnliches habe ich auf Bildern gesehen, in einem Buch aus den Eissteppen im Norden. Trolle, so werden sie genannt. Sie sind angeblich längst ausgestorben.« »Und was tun sie dann hier?« »Das Biest… es erinnert sich an sie.« »Es hat für meinen Geschmack ein viel zu gutes Gedächtnis. Was tun wir jetzt, Jessica?« »Pass auf! Ich zähle bis drei, drehe mich dann um und renne los. Du hältst sie auf, bis ich die Kellertür erreicht habe, und machst dich dann selbst aus dem Staub. Verstanden?« »Verstanden.« »Sieh dich vor, Giles.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Flint lächelte ihm zu, zählte leise bis drei und eilte zurück. Als der Troll ihr nachzusetzen versuchte, verstellte ihm der Tänzer den Weg. Das Unwesen hob die Klauenhände, um ihn zu schlagen, worauf der Tänzer das Schwert im kurzen, tückischen Bogen schwingen ließ. Der Troll konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Die Schwertspitze fuhr ihm über die Rippen, zerschlug das Brustbein und setzte einen Schwall von Blut frei. Laut aufschreiend sackte der Troll in den Knien ein und warf beide Hände über die Wunde. Blut strömte durch die Finger und lief auf dem kalten Steinboden zu einer dampfenden Pfütze zusammen. Wie auf Kommando tauchten nun andere Trolle aus dem Nebel auf und rückten, die roten Augen voller Mordlust, auf den Tänzer zu. Hinter ihnen rührten sich weitere Schatten, die auf ihre Wiedergeburt in die Welt der Menschen warteten. Der Tänzer wehrte sich mit dem Schwert. Flint rannte zur Tür am Ende des Ganges. Der Kampflärm war für sie deutlich zu hören: Das Fauchen und die Schreie der Trolle sowie die dumpfen Hacklaute, die entstanden, wenn die Klinge des Tänzers durch Fleisch fuhr. Die Kellertür trat hinter Nebelschleiern in Erscheinung und Flint musste scharf abbremsen, um nicht davor zu laufen. Sie rammte ihr Schwert in die Scheide und tastete nach dem Drehknauf. Aber sie hatte kein Gefühl mehr in den eiskalten Fingern und musste sie an der tanzenden Fackelflamme erst einmal auftauen. Unter stechenden Schmerzen kehrte Leben in die starren Glieder zurück. Endlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Sie brüllte dem Tänzer zu, er solle kommen, worauf der Kampflärm schlagartig abbrach. Stattdessen wurden das Trommeln rennender Füße und die Schreie der Trolle laut. Es waren mittlerweile so viele von ihnen zur Stelle, dass man sie kaum noch zählen konnte, und ihre Wut gellte mit ohrenbetäubender Lautstärke durch den engen Gang. Der Tänzer rannte durch die offene Tür. Flint folgte, schlug die Tür vor den herbeistürmenden Trollen zu und warf den Riegel vor. Die Tür erbebte in den Angeln, als auf der anderen Seite etwas mit Wucht dagegen prallte. Flint und der Tänzer wichen zurück, schmiegten sich rücklings an die kalte Steinwand und schnappten nach Luft, während jenseits der Tür die Trolle heulten und polternd gegen die Füllung aus festen Eichenbrettern schlugen. »Der Riegel wird nicht lange halten«, sagte Flint. »Verziehen wir uns in den Keller. Die Tür dort lässt sich besser verbarrikadieren.« »So ist es«, stimmte der Tänzer zu. »Diese Gerippe, wie viele sind's?« »Viel zu viele.« Flint mochte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden und eilte die Stufen hinab in den Kellerraum, der halbwegs sicher war. Der Tänzer warf einen letzten Blick auf die bebende Tür, durch deren Ritze dünne Nebelschlieren drangen. Flint hatte die untere Tür schon passiert und wartete ungeduldig auf den Tänzer. Kaum war der herbeigeeilt, warf sie die Tür ins Schloss und legte beide Riegel vor. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür und ließ langsam einen Schwall Luft ab. Der Tänzer steckte seine Fackel in die nächste Halterung. Constance und Wilde starrten die beiden mit ausdrucksloser Miene an. »Was ist los?«, fragte der Bogenschütze. »Auf was seid ihr da oben gestoßen?« »Auf Gestalten, die eigentlich schon seit Jahrhunderten ausgestorben sind«, antwortete der Tänzer. »Große, knochige Monstren mit langen Zähnen und Klauenhänden. Trolle.« »Die gibt's doch nur in alten Legenden«, meinte Constance. »Würdet ihr freundlicherweise mal aufhören zu quatschen und mir helfen, die Tür zu verbarrikadieren«, rief Flint. »Da sind mindestens ein Dutzend solcher Legenden auf dem Weg hierher, und diese Tür wird sie allein nicht lange aufhalten können.« Zu viert hievten sie schweres Zeug vor die Tür. Der glatte Eisboden erleichterte die Arbeit. Der letzte große Gegenstand war gerade zurechtgerückt, als auf der anderen Seite schlurfende Schritte laut wurden. Die Ranger und der Bandit wichen zurück und machten sich auf das Schlimmste gefasst. Plötzlich polterte jemand gegen die Tür. Bald beteiligten sich daran auch andere und das Poltern schwoll zu Donnerschlägen an. Klauenhände hämmerten auf die Tür ein, die bedrohlich in den Angeln wackelte. Flint sah Constance an. »Kannst du sie nicht irgendwie zurückschlagen?« Die Hexe zuckte die Achseln. »Ich habe nicht mehr viel Zauberkraft übrig, kann's aber mal versuchen.« Sie hob die linke Hand, und über den Fingerspitzen bildete sich eine blaue Flamme, die zuckend aufloderte. Die Hexe murmelte etwas vor sich hin, worauf die Flamme von der Hand wegflog und das Holz der Tür durchdrang. Sofort verstummte das Hämmern und Kratzen. Für eine Weile war es still. Doch dann setzte das Gepolter wieder ein. Constance schüttelte den Kopf. »Sie sind zu stark für mich. Ich bin nur eine Hexe und kein Zauberer. Die Tür wird ihnen nicht mehr lange standhalten. Und mit meiner Magie kommen wir auch nicht gegen sie an.« »Kannst du denn gar nichts tun?«, fragte Flint. »Vielleicht doch«, antwortete die Hexe und starrte auf den Boden. Gleich darauf zeigten sich erste Risse in der Eiskruste, die wenig später in tausend Stücke zersplitterte. Constance schmunzelte. »Wenn wir kämpfen müssen, haben wir jetzt immerhin einen festeren Stand.« Wilde blickte auf. »Woher willst du eigentlich wissen, dass wir gegen sie kämpfen müssen? Die Tür ist aus dickem Holz und gut verbarrikadiert.« »Trotzdem kann sie die Trolle nicht aufhalten«, entgegnete die Hexe. »Diese Trolle sind nicht real und können darum beliebig viel Kraft aufbringen. Das Biest wacht allmählich auf und wittert in uns eine Gefahr.« Das Hämmern wurde wieder lauter. Die Barrikade wackelte und fiel auseinander, als die Tür plötzlich der Länge nach aufplatzte. Die vier Verteidiger wichen zurück und mussten mit ansehen, wie der Riss in der Türfüllung weiter aufklaffte und grinsende Trolle dahinter zum Vorschein treten ließ. Sie zischten, fauchten und schnappten erwartungsvoll mit den Zähnen. Im fahlen Licht der Laterne zeigten sich knochige Hände und stumpf schimmernde Klauen, die zuckend durch die Öffnung gierten. Flint und der Tänzer traten beherzt vor die Hexe. Wilde legte einen Pfeil auf die Bogensehne. Die Trolle drängten in den Kellerraum. Wildes Bogen summte und der vorderste Troll taumelte, vom Pfeil ins Auge getroffen, zurück. Zwei weitere Gegner fielen durch Wildes Geschosse. Dann musste er selbst zurückweichen und Flint und dem Tänzer das Feld überlassen. Die beiden Ranger wehrten sich wacker und ließen ihre Schwerter durch die Luft wirbeln. Es sah ganz einfach aus, wie sie durch die Masse der knochigen Gestalten fuhren, die ebenso substanzlos zu sein schienen wie der Nebel, aus dem sie aufgetaucht waren. Blut spritzte durch den Raum und regnete zu Boden, wo es dampfend und zischend auf die Eissplitter traf. Ein Spritzer landete auch auf dem Handgelenk des Tänzers und brannte ätzend auf der Haut. Er fluchte leise vor sich hin, ließ sich aber nicht weiter ablenken. Es passten immer nur einige wenige Trolle durch die Tür, und obwohl sie wie besessen attackierten, wich der Tänzer keinen Schritt zurück. Hier bot sich ihm wieder einmal eine Gelegenheit zu beweisen, wozu ein wahrer Schwertmeister in der Lage war. So schnell wusste er seine Waffe zu führen, dass ihr kein Auge folgen konnte. Ausfall, Stoß und Rückzug - all das dauerte keinen Wimpernschlag lang. Wie eine Sichel fuhr die Klinge durch die Angreifer, die heulend und mit krummen Knochenfingern nach dem Tänzer auslangten und mit ihren großen Mäulern nach ihm schnappten. Doch er war immer rechtzeitig außer Reichweite und ein Troll nach dem anderen ging vor ihm zu Boden, schreiend, sterbend. Flint kämpfte an seiner Seite. Mit einem Ausdruck erstarrter Wut auf dem Gesicht schwang sie ihr bluttriefendes Schwert. Tödlich getroffene Trolle lagen sterbend zu beiden Seiten und verstopften den Eingang. Flint war zwar nicht so schnell oder geschickt wie der Tänzer, wusste aber als erfahrene Kämpferin besser mit dem Schwert umzugehen als die meisten Männer. Sie hatte an der Entscheidungsschlacht im Dämonenkrieg teilgenommen, mit einem schlecht sitzenden Kettenhemd und geborgtem Schwert. Danach gab es kaum noch etwas, das sie abschrecken konnte. Jetzt hieb und hackte sie auf die knochigen Fratzen ein und ignorierte die zunehmenden Schmerzen im Rücken und in den Armen. Sie war Mitglied der Ranger und würde bis zum Umfallen kämpfen. Wilde ließ Pfeil um Pfeil durch die Luft schnellen und streckte die Trolle nieder, die sich an Flint und Giles vorbeizudrängen versuchten. Er wusste schon nicht mehr, wie viele er erlegt hatte, doch die Trolle zwängten sich in unvermindert großer Anzahl durch die Tür. Und dem Schützen gingen bald die Pfeile aus. Er legte Langbogen und Köcher vorsichtig in einer Ecke ab, wo sie nicht stören konnten, zog sein Schwert und beobachtete die beiden Ranger, wie sie gegen die endlose Flut dieser unmenschlichen Gegner ankämpften. Wie in alten Zeiten, Jessica ? Er schaute sich in der unbestimmten Hoffnung um, einen Ausgang zu entdecken, den sie bislang übersehen hatten, aber da war nur diese Falltür, und dadurch — das hatte er sich geschworen - würden ihn keine zehn Pferde ziehen können. Nein, so Leid es ihm auch tat, er musste seine ganze Hoffnung auf die beiden Ranger setzen. Er wartete einen günstigen Augenblick ab und sprang Flint zur Seite. Die Trolle fielen zuhauf. Aus ihren Todesschreien schöpfte Wilde Mut. Es war schon sehr lange her, dass er einen Kampf auszufechten hatte, in dem die Chancen so schlecht für ihn standen. Trotzdem nahm er den Kampf auf, denn es blieb ihm nichts anderes übrig. Nach einer Weile gewann er verlorene Fähigkeiten zurück und sein Schwert zuckte so schnell und so tödlich wie ein Blitz umher. Hätte Flint ihm zusehen können, wäre ihr jener Edmond Wilde von damals in Erinnerung gekommen. Die Hexe Constance hob die Hände und nahm die Pose ein, in der sie für gewöhnlich ihre magischen Kräfte aufrief. Sie hatte zwar einen Großteil davon verbraucht, doch raffte sie nun allen Rest zusammen, und als sie schließlich die Formel aussprach, erstrahlte gleißend helles Licht zwischen den ausgestreckten Händen. Kreischend schreckten die Trolle der ersten Reihe zurück, als ihnen sämtliche Knochen im Leib zersplitterten. In Constances linker Schläfe machte sich kurz darauf ein pochender Schmerz bemerkbar und aus dem linken Nasenloch sickerte Blut. Sie ließ sich davon aber nicht irritieren und vertraute darauf, dass ihr Körper einiges an Stress aushalten konnte. Alle vier kämpften unermüdlich weiter und hielten mit ihrem Mut und ihrer Kampfkraft die Angreifer zurück. So viele von denen auch starben, es füllten Nachrückende die Reihen immer wieder auf. Schlimmer noch, ihre Zahl nahm sogar dramatisch zu. In der Tiefe unter dem Fort ebnete sich der Stollen allmählich. MacNeil blieb stehen und ließ Hammer und Jack zu sich aufschließen. Alle drei starrten in die pechschwarze Öffnung am Ende des Tunnels. MacNeil legte die Stirn in Falten. Er konnte nahe vor sich eine Stufe erkennen, aber das war auch schon alles. Womöglich führte der Tunnel in eine Art Höhle… Vorsichtig ging er bis zur Stufe vor und leuchtete mit seiner Laterne. Das fahle gelbliche Licht brach sich in Tausenden winzig kleiner Kristalle, die auf beiden Seiten in der Wand steckten. Sie leuchteten im Dunkeln wie fernes Gestirn am mondlosen Nachthimmel und warfen ihr Licht in eine Höhle, die so groß war, dass MacNeil der Atem stockte. Das Licht reichte bei weitem nicht bis an ihre Ränder, die in der Breite mindestens eine halbe Meile auseinander lagen. In der Höhe maß die Höhle wohl noch mehr. Der Tunnel öffnete sich hoch oben in einer Steilwand, mehrere hundert Schritt über dem Höhlengrund. Ein schmaler Sims führte vom Tunnel zu einer anderen Öffnung in der Wand, die ein Stück tiefer lag und um ungefähr fünfzehn Schritt versetzt war. Der Sims gefiel MacNeil ganz und gar nicht. Er war nur knapp zwei Fuß breit, voller Stolperkanten und anscheinend erst vor kurzem in die Felswand geschlagen worden. MacNeil blickte in die Tiefe und wurde von einem plötzlichen Schwindelanfall gepackt. Schnell schaute er weg und atmete tief durch, bis sich der Anfall wieder gelegt hatte. Jack und Hammer hatten ihn in die Mitte genommen und starrten in die weite Höhle hinaus. Auch Hammer hielt beim Anblick der glitzernden Kristalle unwillkürlich die Luft an. Vor den Ausmaßen der Höhle kam er sich selbst klein und schmächtig vor, was ihm überhaupt nicht behagte. Jack musterte den schmalen Steig an der Wand und knabberte nachdenklich an der Unterlippe. Wer hier abrutschte, stürzte ungemein tief. »Wie hoch sind wir hier, was schätzt ihr?«, wollte er von MacNeil wissen. »Keine Ahnung.« »Ob das Biest da unten liegt?« »Sehr wahrscheinlich«, antwortete Hammer. »Aber wo ist das Gold? Womöglich auch da unten oder hinter der anderen Öffnung?« MacNeil kniff die Brauen zusammen. Wenn sie sich auf den schmalen Sims hinauswagten, wären sie einem Überraschungsangriff schutzlos ausgeliefert. Sie müssten sich, einer nach dem anderen, eng an die Felswand schmiegen und langsam vorwärts tasten. Wie auch immer, die Öffnung durfte natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Hammer hatte Recht. Das Gold konnte sich nur an zwei Stellen befinden, und der leichtere Weg führte zur Öffnung nebenan. »Na schön, versuchen wir's«, sagte er mit Blick auf Hammer. »Ich gehe vor.« Er setzte einen Fuß auf den Sims und prüfte dessen Trittfestigkeit, bevor er sich ganz hinauswagte. Der grob behauene Fels schien zu halten. Die Schulter an die Wand geschmiegt, bewegte er sich seitlich über den Steig. Einmal schaute er in die Tiefe, was er aber sogleich bereute. Extreme Höhen machten ihm sonst nichts aus, doch das hier war etwas anderes. Fortan hielt er seinen Blick fest auf die zweite Öffnung gerichtet. Vom Ausgang aus betrachtet, hatte der Weg dorthin nicht besonders weit ausgesehen, doch nun schien er sich endlos in die Länge zu strecken. Vorsichtig rückte er Stück für Stück weiter vor. Die feste Wand im Rücken zu spüren vermittelte ihm zumindest ein wenig das Gefühl von Sicherheit. Hammer trat nun, da er sah, dass MacNeil zurechtkam, ebenfalls auf den Sims hinaus. Zum Schluss folgte Jack, dem als Einzigem die Tiefe nichts auszumachen schien. Im Wald kletterte er aus Lust und Laune auf die höchsten Bäume. Dagegen hatte er es in der Enge des Tunnels kaum ausgehalten; die weite Höhle war da schon eher nach seinem Geschmack. Mit sicherem Schritt folgte er Hammer, hielt die Fackel hoch in die Luft und sah sich neugierig um. Die zweite Öffnung in der Felswand stellte, wie sich zeigte, den Einstieg zu einem weiteren Tunnel dar. Davor angekommen, ging MacNeil in die Hocke und leuchtete mit seiner Laterne in den kreisrunden Ausschnitt, der im Durchmesser gut zwei Schritte breit war und in schieren Fels gebohrt worden zu sein schien. Die Wände waren auffallend glatt, was MacNeil auf den Gedanken an einen Riesenwurm brachte, der sich blindlings durch den Berg fraß. Im Schein der Laterne wirkte der Tunnel leer und verlassen. Wenn er etwas entdecken wollte, musste er sich wohl oder übel auf den Weg ins Innere machen. Widerwillig betrat er den Tunnel. Hammer und Jack folgten ihm auf den Fersen. Nach nur wenigen Schritten öffnete sich auch dieser Gang in eine Höhle. In dieser Höhle stapelten sich Hunderte achtlos abgelegter Ledersäcke, die allesamt das königliche Siegel des Schatzamtes trugen. Hammer stieß MacNeil zur Seite, eilte hin und kniete vor den Säcken nieder. Er packte den ersten, der ihm in die Hände kam, zerrte hastig an der Kordel, mit der der Sack zugeschnürt war. Als er ihn endlich geöffnet hatte, griff er hinein und brachte schimmernde Goldmünzen zum Vorschein. Er starrte lange Zeit darauf und ließ die Münzen dann langsam durch die Finger und von der Hand zurück in den Sack tropfen. Das musikalische Geklimper von Gold auf Gold brachte ihn zum Schmunzeln. »Hunderttausend Dukaten«, sagte er leise. »Komm nicht auf falsche Gedanken, Hammer«, sagte MacNeil. »Das Gold gehört dem König. Dabei bleibt's auch. Dir steht eine Belohnung zu, und ich werde dafür sorgen, dass du sie bekommst. Das wäre dann aber alles.« Grinsend schnürte Hammer den Sack wieder zu und stellte ihn zu den anderen zurück. Vogelscheuchen-Jack schnaubte verächtlich und sah sich um. Er hatte für Gold keine Verwendung im Wald. Plötzlich krauste er die Stirn und hob die Fackel gegen die Wand auf der rechten Seite. Im zusätzlichen Licht zeigte sich eine enge Öffnung dicht über dem Tunnelboden, fast verdeckt vom Schatten der aufgestapelten Säcke. Er machte MacNeil darauf aufmerksam. Die beiden gingen davor in die Hocke. Auch dieser Stollen hatte ungewöhnlich glatte Wände. Er war nur etwa einen Schritt breit und führte in einen weiteren Tunnel, der wiederum vollkommen glatte Wände hatte. Jack sah MacNeil an. »Was meint ihr? Werfen wir einen Blick hinein?« MacNeil zuckte die Achseln. »Wo wir schon mal hier sind. Aber wir müssen uns in Acht nehmen. Dass das Gold hier deponiert worden ist, hat bestimmt einen Grund, und ich habe das Gefühl, dass wir uns an der Nase herumführen lassen. Constance meint, das Biest könnte das Gold als Köder benutzen.« Jack verriet Unsicherheit. »Aber was könnte dieses Ungeheuer von uns wollen?« »Gute Frage. Ich furchte, uns wird die Antwort nicht gefallen. Hammer!« Hammer blickte auf. »Was ist?« »Hier ist noch ein Tunnel. Ich werde mich mit Jack darin umsehen. Kommst du mit?« Hammer schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Jemand muss doch auf das Gold aufpassen.« »Eine andere Antwort hätte ich auch nicht erwartet«, entgegnete MacNeil. »Na schön, wie du willst. Jack, lass deine Fackel hier. Es reicht, wenn ich die Laterne mitnehme.« Auf Händen und Knien kroch er in den Tunnel. Jack reichte Hammer die Fackel und folgte. Hammer sah die beiden verschwinden. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf das Gold und zählte die Säcke, wobei sich seine Lippen stumm bewegten. Der enge Gang war glitschig und erdrückend. MacNeil kroch so schnell er konnte und schob die Laterne vor sich her, deren Licht von den glatten Wänden nur matt widerspiegelte. Der fahle goldene Schimmer ließ den Gang noch enger erscheinen, und MacNeil spürte einen Anflug von Klaustrophobie. Aber entschlossen kroch er auf allen vieren weiter und spähte nach vorn ins Dunkle jenseits des Lichtkreises. Er konnte Jack hinter sich hören, der Geräusche machte, die ihn an die kriechenden blinden Riesen erinnerten, die ihm tief unter der Erde begegnet waren. Um sich von dieser Vorstellung zu befreien, schüttelte er den Kopf. Auf einmal spürte er nicht mehr glattes, sondern raues Gestein unter den Händen, und er stellte fest, dass sich der Gang in eine Höhle geöffnet hatte. Er richtete sich auf, reckte die schmerzenden Glieder und hob die Laterne in die Höhe. Auch Jack kam nun aus dem Tunnel gekrochen und stellte sich neben ihn. Eine Weile standen die beiden stumm und reglos da und starrten auf das, was ihnen in dieser Höhle zu Gesicht kam. Männer, Frauen, Kinder, alle, die in der Grenzfeste ums Leben gekommen waren, lagen hier zu einem großen Haufen aufgestapelt. Es schien, als seien sie einfach abgelegt worden, um zu verwesen. Die Höhle war wohl an die dreißig Schritt breit, und die vielen Leichen nahmen ungefähr die Hälfte des gesamten Raumes ein. Jeder der hier lag, war unverkennbar eines gewaltsamen Todes gestorben und voll von getrocknetem Blut. MacNeil traute seinen Augen kaum und fühlte sich schrecklich ohnmächtig. All diese Menschen waren tot und unwiederbringlich verloren. Die Kinder gingen ihm besonders nahe. Die kleinen Körper, zerstört und weggeworfen… So zu sterben hatte kein Kind verdient. Sofort griff MacNeil nach dem Schwert und schwor im Stillen Rache, koste es, was es wolle. Jack näherte sich dem Leichenberg und suchte nach Hinweisen auf die Todesursache der einzelnen Opfer. Er kam mit der Situation offenbar besser zurecht als MacNeil. Im Wald lebend, war er mit allen Formen des Todes vertraut und hatte den Schrecken darüber längst verloren. Für ihn war der Tod nur ein Teil der Welt. Plötzlich merkte Jack irritiert auf und bückte sich, um den Höhlenboden zu untersuchen. MacNeil riss seinen Blick von den Toten los und rief seinen Verstand auf. Das Gold und die Leichen wie waren sie hierhin gelangt? Jemand musste sie hergeschafft haben. Vielleicht die kriechenden Riesen? MacNeil krauste die Stirn und schüttelte den Kopf. Diese Riesen waren doch viel zu groß. Sie hätten den schmalen Sims am Rand der großen Höhle gewiss nicht passieren können, geschweige denn den engen Tunnel. »Sergeant, kommt doch mal mit der Laterne«, sagte Jack. »Ich hab etwas Interessantes entdeckt.« MacNeil rückte zu ihm vor, bückte sich und beleuchtete die Stelle, die Jack so eingehend studierte. Es war schierer Fels, darauf eine Staubschicht mit Spuren, die aber zu undeutlich waren, als dass sie für MacNeil irgendeinen Aufschluss hätten erbringen können. »Und?«, fragte er. »Was siehst du, Jack?« »Fußabdrücke«, antwortete Jack seelenruhig. »Von Menschen. Da sind jede Menge Männer, Frauen und Kinder durcheinander gelaufen. Andere Spuren gibt's nicht. Das heißt, alle, die hier liegen, sind nicht hergeschafft worden, sondern auf eigenen Beinen gelaufen.« MacNeil staunte. Plötzlich glaubte er eine Bewegung am Blickfeldrand entdeckt zu haben und fuhr mit dem Kopf herum. Eine der Leichen hatte die Augen geöffnet und starrte ihn an. Eine andere zog die schwarzen Lippen zu einem schauerlichen Grinsen auseinander. Jack und MacNeil sprangen auf. Die toten Augen folgten ihnen. Allmählich kam immer mehr Leben in den Leichenberg. Nach und nach schlugen alle Toten die Augen auf und wandten ihre blutverschmierten Gesichter den beiden Eindringlingen zu, offensichtlich empört darüber, in ihrer Ruhe gestört zu werden. MacNeil wähnte sich von einer kalten Hand ans Herz gefasst, als er sich vorstellte, wie eine endlose Reihe wandelnder Leichen durch die dunklen Gänge, über den schmalen Sims und schließlich in diese Grotte gezogen sein mochte, um hier umzukippen und zum Liegen zu kommen, eine über der anderen, sodass diejenigen, die später kamen, auf den Haufen hochklettern mussten… MacNeil fluchte flüsternd vor sich hin und wich zurück. So auch Jack. Die Leichen blickten ihnen nach, ohne mit der Wimper zu zucken. »Köder«, hauchte MacNeil. »Das Gold und die verschwundenen Toten… nur Köder, um uns hier herunter zu locken und zu vernichten.« »Aber wozu so viel Aufwand?«, fragte Jack. »Was macht uns so wichtig? Das Biest könnte uns doch einfach in den Wahnsinn treiben, wie es das auch mit all den anderen getan hat.« »Ich weiß nicht«, antwortete MacNeil. »Das Biest will etwas von uns. Vielleicht besitzen wir etwas, das ihm schaden könnte…« Plötzlich gingen ihm die Augen auf. »Natürlich! Das Infernaleisen! Das Monstrum will nicht alle von uns, nur Hammer und sein verfluchtes Schwert.« »Augenblick«, sagte Jack und starrte beunruhigt zurück auf den Leichenhaufen. »Das kann wohl kaum das Werk des Biests sein. Es schläft doch noch, oder?« »Das hat nichts zu sagen«, erwiderte MacNeil. »Sein Bewusstsein ist mit unserem nicht zu vergleichen. Sie wird den Wolfsfluch erkannt haben, als Hammer das erste Mal ins Fort gekommen ist, um das Gold auszuliefern. Das Biest weiß, wie mächtig dieses Schwert ist, und erkennt darin eine Gefahr für sich. Also hat es sein Träume ausgesendet und alle, die sich im Fort aufhielten, vernichtet, um sie als Köder zu missbrauchen, als Köder für den, der das Eisen mit sich führen würde… damit es dieses ein für allemal zerstören kann. Komm, Jack. Wir müssen Hammer holen und machen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wenn das Eisen tatsächlich der Schüssel ist, dürfen wir nicht riskieren, dass es dem Biest in die Hände fällt. Beeilung! Ich bleibe dicht hinter dir und leuchte den Weg mit meiner Laterne.« Jack nickte und tauchte in den engen Höhlengang ein. MacNeil zählte bis fünf und eilte ihm nach, so schnell er auf Händen und Knien vorankommen konnte. Seine Gedanken aber blieben bei dem zurück, was er zuletzt gesehen hatte: dem Leichenberg, der in Bewegung geraten war, als wimmelte er vor Maden. Die Toten erhoben sich, um wieder umherzuwandeln. Jack und MacNeil hasteten verzweifelt weiter. Der Tunnel schien nun auf dem Rückweg sehr viel länger zu sein, und die Hälfte der Wegstrecke war gerade erst erreicht, als hinter ihnen Geräusche laut wurden. Irgendwie schafften sie es, noch ein bisschen mehr Kraft aufzubringen und schneller zu kriechen, und wenig später war das Ende erreicht. Mit einem Hechtsprung warfen sie sich in die äußere Höhle. Hammer fuhr erschrocken herum und griff sofort nach dem Schwert, als er ihre entsetzten Gesichter sah. »Was ist? Was habt ihr gesehen?« »Wandelnde Leichen«, keuchte Jack. »Wir müssen abhauen!« »Und all das Gold zurücklassen?« »Das wird schon nicht wegkommen!«, zischte MacNeil. »Sie haben's auf dein Schwert abgesehen, Hammer, auf das Eisen! Das Biest scheint Angst davor zu haben. Deshalb hat es das Gold hier herunter gebracht. Es wollte, dass du kommst und in die Falle tappst.« Als er sich umdrehte und einen Blick auf die Tunnelöffnung warf, sah er, wie sich ein nackter weißer Arm daraus hervorwand. Er setzte die Laterne auf dem Boden ab und zog sein Schwert. Der Tunnel war inzwischen voller Geräusche. MacNeil schwang das Schwert mit beiden Händen und durchschlug den ausgestreckten Leichenarm am Handgelenk. Scheppernd traf die Klinge auf den Felsrand, während die abgetrennte Hand durch die Höhle flatterte. Auf dem Boden gelandet, kam sie dann wie eine riesige bleiche Spinne auf MacNeil zugekrabbelt. Jack trat sie weg. Das Gespenst kam nun aus dem Tunnel gekrochen und warf sich MacNeil entgegen. Seine falbe Haut war besprenkelt mit längst getrocknetem Blut, aber aus dem Armstumpf kam kein Tropfen mehr. Hammer steckte Jack die Fackel zu und zog das Schwert, das er an der Hüfte trug. Derweil zielte MacNeil mit seiner Waffe auf den Hals des Toten, der aber den Streich mit bloßem Arm abblockte und grinste, als die Klinge über den Knochen schabte. Ehe ihm das Gespenst im Gegenzug an die Gurgel springen konnte, war MacNeil zurückgewichen. Da aber kroch auch schon die zweite Leiche aus dem Tunnel. MacNeil schlug auf sie ein, doch sie drängte weiter. Hammer sprang herbei und brachte das erste Gespenst mit einem wuchtigen Streich auf dessen Beine zu Fall. MacNeil musste sich einer weiteren Attacke durch das zweite Monstrum erwehren, während der Tunnel Leiche um Leiche entließ. Hammer und MacNeil versuchten, ihre Stellung zu behaupten, sahen sich aber einer ständig wachsenden Anzahl von Gegnern ausgesetzt, die einfach nicht tot bleiben wollten und die beiden immer weiter in die Defensive zwangen. Aufhalten ließen sich die Toten nur durch gezielte Schläge auf die Kniesehne oder den Hals. Und selbst in enthauptetem oder verkrüppeltem Zustand schleppten sie sich weiter, um niederzumachen, wer sich ihnen zu widersetzen wagte. Die meisten Leichen waren zu Lebzeiten männlichen Geschlechts gewesen, aber es kamen auch ehemalige Frauen und Kinder aus dem Tunnel gekrochen. MacNeil konnte es kaum über sich bringen, auf eins dieser Kinder einzuschlagen, als er dazu genötigt wurde. Doch als er in die toten Augen blickte, entdeckte er darin eine teuflische Bosheit, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Danach wehrte er sich gegen Kinderleichen ebenso entschlossen wie gegen tote Erwachsene, und sooft er einem kindlichen Gespenst entgegentrat, wiederholte er im Stillen seinen Racheschwur, den er gegen das Biest ausgestoßen hatte, das ihn und seine Freunde auf so schändliche Weise missbrauchte. Für Hammer schien es gleichgültig zu sein, wen oder was er bekämpfte. Er schwang sein Schwert ohne Rücksicht auf Verluste; ab und zu huschte ihm ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Jack stand abseits und hielt die Fackel, gefasst darauf, dass es einem der Monstren gelingen würde, an den anderen beiden vorbeizukommen. Mit seinem Messer, so ahnte er, würde er nichts ausrichten können, aber immerhin hatte er durchaus Erfolg mit der Fackel. Zwar empfand das kalte Fleisch keinen Schmerz, wenn es mit den flackernden Flammen in Berührung kam, doch Haare und Kleider waren so trocken, dass sie sogleich Feuer fingen und lichterloh brannten. Schon bald wälzte sich ein halbes Dutzend brennender Leichen am Boden und fuchtelte mit den Armen, um die Flammen zu löschen, die die Höhle in helles Licht tauchten. Dennoch drängten immer mehr Leichen durch den engen Stollen in die Höhle und zwangen die Verteidiger Stück für Stück zurück. Deren Schwerter metzelten nieder, was in Reichweite kam, doch was nicht mehr auf Beinen stehen konnte, schleppte sich entschlossen weiter auf die lebende Beute zu. MacNeil spürte eine alte Furcht wieder aufkeimen, jene Furcht, die ihn schon zu überwältigen gedroht hatte, als die Dämonen aus der endlosen Nacht ausgeschwärmt waren zu einer albtraumhaften Attacke, die kein Ende zu nehmen zu schien. Angst und Panik machten sich auch jetzt wieder bei ihm breit. Er war geneigt, den Angreifern seine Wut entgegenzuschreien, aber es gelang ihm dann doch, sich zusammenzureißen und den langsamen, kontrollierten Rückzug fortzusetzen. Hammer folgte auf gleicher Höhe, und Jack hielt ihnen mit der lodernden Fackel den Rücken frei. Die Höhle war inzwischen voller Leichen, deren verzerrte bleiche Gesichter die Träume des Biests spiegelten, die dieses kontrollierte. »Wir können sie nicht länger aufhalten«, sagte MacNeil. »Zieh dein anderes Schwert, Hammer. Zieh das verdammte Schwert.« »Mir bleibt wohl nichts anderes mehr übrig, oder?« Mit einem wuchtigen Hieb enthauptete er ein Ungetüm, das mit seinen Klauen nach ihm griff. Der Kopf rollte mit stumm bewegten Lippen über den Boden. Rumpfund Beine torkelten aufrecht hin und her, die Arme ausgestreckt, blindlings tastend nach dem Feind, bis andere Leichen nach vorn drängten und es zur Seite rempelten. Hammer nutzte die Gelegenheit der allgemeinen Verwirrung und steckte das Schwert in die Scheide. Dann holte er einmal tief Luft und griff nach dem Heft des Langschwertes, das über seine linke Schulter hinausragte. Seine Mundwinkel zuckten, als läge ihm bittere Galle auf der Zunge. Der Schwertgriff schien sich wie von selbst der Hand anzubieten. Mit schwungvoller Bewegung zog er es aus der silbernen Scheide und hob die überlange Stahlklinge, als wäre sie schwerelos. Krankhaft gelbes Licht strahlte von ihr aus. »Wolfsfluch«, flüsterte Hammer. »Du bist wieder freigesetzt in die Welt.« Die Leichen stoppten ihren Vormarsch. In stummer Begeisterung hefteten sie ihre leeren Blicke auf das glühende Langschwert, während etwas anderes das Hölleneisen durch deren tote Augen musterte und es als das wieder erkannte, was es war. Das Höllenschwert war in die Tiefen der Erde gebracht worden, und nun würden sie es an sich nehmen und so vergraben, dass es dem Biest nie wieder gefährlich werden könnte. Mit ausgestreckten Armen rückten die Leichen weiter vor. Hammer trat ihnen mit dem Wolfsfluch entgegen. Unglaublich schnell fuhr das Schwert durch die Menge der Monstren, die ihm kaum mehr Widerstand zu bieten schienen als Rauchschwaden. Sie fielen machtlos unter Hammers Attacken, verwesten und lösten sich auf, kaum dass sie mit der Klinge in Berührung gekommen waren. Der ganze Höhlenboden war bald lückenlos bedeckt mit faulenden Geweberesten und fahlen Knochen. Aber es drängten immer mehr Leichen durch den engen Tunnel nach. Ihre Zahl nahm so schnell zu, dass Hammer mit deren Verminderung nicht mehr Schritt halten konnte. Die drei - Hammer, MacNeil und Vogelscheuchen-Jack — mussten weiter zurückweichen, so sehr sie sich auch wehrten. Ihnen war klar: Die Leichen würden sie in Stücke reißen, wenn sich ihnen auch nur die kleinste Lücke böte. Hammer sprang wie besessen vor und zurück, und je mehr Leichen er niederstreckte, desto heller glühte der Wolfsfluch auf. Jack und MacNeil gaben ihm nach besten Kräften Flankenschutz, zumal Hammer ausschließlich auf Angriff eingestellt zu sein schien. Getrieben von dem Biest in seinen finsteren Träumen, rückten die Leichen immer weiter vor. Da kamen Hunderte von toten Männern, Frauen und Kindern, gestorben in der Grenzfeste. Sie zwangen Hammer, MacNeil und Jack Schritt für Schritt zurück, bis an den Rand der Höhle, durch den Stollen und schließlich auf den Sims an der schwindelnd hohen Steilwand hinaus. Jack, der nach wie vor die Fackel hielt, ging als Erster; ihm folgte MacNeil mit der Laterne, und zum Schluss kam Hammer. Er hielt die Leichen auf Abstand und das Infernaleisen leuchtete im Dunkel strahlend hell. Sein bittergelbes Licht reflektierte in Myriaden von Kristallen, die in den Felswänden steckten. Langsam und vorsichtig zogen sich die drei Männer über den schmalen Steig zurück. Die Toten setzten ihnen nach. Weit unten, tief in der Erde, rührte sich das Biest im Schlaf. Flint, Wilde und der Tänzer schwangen die Schwerter mit schmerzenden Armen. Andere wären vor Erschöpfung längst umgefallen. Immer schwerer wurden ihnen ihre Schwerter, doch sie gaben nicht auf. Der Zustrom der Trolle schien nicht versiegen zu wollen. Ihre blutroten Augen glühten gefräßig. Lange, knochige Kadaver lagen am Boden verstreut, und noch hatte keines der Scheusale die Verteidiger überwinden und die Falltür erreichen können. Flint, Wilde und der Tänzer konnten sie in Schach halten, weil immer nur einige wenige gleichzeitig durch den Eingang passten. Doch es war, wie jeder wusste, nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen fallen würde. Zu zweit wäre es ihnen dann nicht mehr möglich, die Trolle abzuwehren. Der Tänzer war in seinem Element. Sein Schwert schwirrte flirrend umher und fuhr durch die Menge der Trolle wie eine Sense durch Getreide. Er grinste breit und seine Augen leuchteten in grimmer Befriedigung. Er tat, was er am besten konnte, und genoss jeden Augenblick. Dass der Gegner von erdrückender Überlegenheit war, machte den Kampf für ihn, den Tänzer, umso prickelnder. Flint focht an seiner Seite. Was er ihr an Geschicklichkeit und Schnelligkeit voraus hatte, machte sie durch Kraft und Ausdauer wett. Und sie kämpfte nicht nur, sondern überlegte gleichzeitig hin und her, wie sich die Trolle bezwingen lassen könnten. Allerdings ahnte sie längst, dass darauf kaum zu hoffen war. Sie gaben ihr Bestes, doch das schien nicht zu reichen. Pech. Aber darauf musste man als Ranger immer gefasst sein. Flint kämpfte weiter und achtete nicht auf die Schmerzen und das aus zahllosen kleinen Wunden sickernde Blut. Bis zum bitteren Ende würde sie aushalten. Und wer weiß? Vielleicht schaffte MacNeil es ja, das Biest zu töten. Ja. Vielleicht. Wilde kämpfte an Flints Seite. Er bereute es, so früh schon alle seine Pfeile verschossen zu haben. Mit dem Schwert konnte er zwar auch gut umgehen, aber längst nicht so gut wie mit einem Bogen. Außerdem war ein Schütze, der aus der Entfernung agierte, weit weniger gefährdet als ein Schwertkämpfer. Er hackte auf einen Troll ein und spaltete dessen Schädel vom Scheitel bis zur Kinnlade. Wilde grinste gehässig über den grotesken Anblick des Gegners, der vor seinen Augen zusammenbrach. Zum Teufel mit allen, die sich ihm in den Weg stellten. Er kämpfte weiter und wünschte, er hätte zumindest einen Pfeil zurückbehalten — für den Tänzer. Noch war er auf die Kampfkraft des Schwertmeisters angewiesen. Aber später, wenn die Trolle endlich geschlagen wären… Er schwang sein Schwert und erwehrte sich der Gegner, die ihn zu Boden zu reißen versuchten. Das Blut, das seine Kleider durchtränkte, stammte nicht allein von gefallenen Trollen. Constance sprach eine Zauberformel nach der anderen. Ihr eintöniger Singsang wurde zunehmend heiser und undeutlich. Sie strapazierte ihre magischen Möglichkeiten über alle Maßen, ungeachtet der rasenden Kopfschmerzen, die sie hatte. Die wenigen Trolle, die an den Schwertkämpfern vorbei und in die Nähe der Hexe kamen, verbrannten wie Motten im Feuer. Einer von ihnen schleppte sich weiter, obwohl ihm das Fleisch von den Knochen tropfte wie Wachs von einer Kerze. Constance beschrieb eine energische Geste und der Troll explodierte in einer Wolke aus Blut und Gewebe. Dass sie ihre Magie bis an die Grenzen ausreizte, forderte nun einen qualvollen Tribut. Ein stechender Schmerz fuhr ihr über dem linken Auge durch die Stirn. Aus der Nase troff Blut. Es drohte ein Kollaps. Von kalten und heißen Schauern geschüttelt, wankte sie hin und her und hielt krampfhaft an ihrem Bewusstsein fest. Fiele sie jetzt in Ohnmacht, würden die Trolle kurzen Prozess mit ihr machen. Und außerdem, sie konnte ihre Partner doch nicht einfach im Stich lassen. Der Schwindel legte sich ein wenig, und wieder brachte sie ihre Zauberkraft auf. Gefahr drohte nicht von den Trollen allein. Im Keller hatten sich dünne Nebelschleier gebildet, die von den Trollen als Schleuse in die wirkliche Welt genutzt werden konnten. Wenn sich dieser Nebel weiter ausbreitete, würden die Scheusale aus allen Ecken und Enden auftauchen, und die Verteidiger wären im Nu überrannt. Constance nahm all ihre Kraft zusammen und konzentrierte sich auf die Aufgabe, den Nebel zu vertreiben. Die Trolle witterten wohl die augenblickliche Verwundbarkeit der Hexe und attackierten mit entfesselter Wut. Einer schaffte es, an Flint und Wilde vorbeizukommen, und schnappte mit fletschenden Zähnen nach Constance. Sie rammte ihm ihre Faust in den Rachen. Die vielen Ringe an ihren Fingern taten ein Übriges, sodass der Troll würgend zu Boden ging. Mit einem gezielten Fußtritt zerbrach sie den Hals des Gegners. Sie schmunzelte flüchtig und widmete sich wieder ihren Zauberkünsten. Die vier Verteidiger kämpften weiter. Andere hätten sich an ihrer Stelle längst ihrem Schicksal ergeben, und auch sie sahen kaum mehr eine Chance für sich. Der Tänzer wurde von drei Trollen in die Zange genommen, die sich einfach zu sterben weigerten, sosehr er auch mit dem Schwert auf sie einschlug. Dermaßen in Anspruch genommen, konnte er nicht verhindern, dass sich zwei weitere Gegner über Flint hermachten. Sie tötete einen, war aber nicht schnell genug und musste sich gefallen lassen, vom zweiten zu Boden gestoßen zu werden. Wilde hatte gerade selbst einen Troll niedergestreckt und blickte in dem Moment auf, als Flint überwältigt wurde. Benommen von dem Sturz, hob sie ihren Säbel zur Abwehr. Doch der Troll, der sich über sie beugte, schlug ihr die Waffe aus der Hand. Als sie danach zu greifen versuchte, wischte ihr der Troll mit seinen Klauen übers Gesicht. Sie konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite drehen und so ihr Gesicht schützen. Doch zerfetzten ihr die langen Krallen das linke Ohr. Sie schrie vor Schmerzen auf und spürte warmes Blut in den Nacken rinnen. Grinsend legte ihr der Troll seine schweren Pranken um den Hals. Flint versuchte sich freizukämpfen, was ihr aber nicht gelingen wollte. Schreiend warf sich Wilde auf den Troll und stieß ihn mit Wucht von Flint herunter. Dabei landete er selbst so unglücklich, dass er sich den Ellbogen auf dem Steinboden prellte. Sofort war seine Hand gefühllos und er musste ohnmächtig mit ansehen, wie ihm das Schwert aus den starren Fingern glitt. Der Troll bäumte sich über ihm auf, riesig und schrecklich, und er lachte nur, als Wilde einen Fausthieb auf seinen Unterleib platzierte. Wilde wälzte sich zur Seite, um das Scheusal abzuschütteln, doch es hielt ihn mit der Klauenhand bei der Kehle gepackt und ließ nicht locker. Mit der anderen Hand schlitzte es ihm den Bauch auf und zog ein Geschlinge blutiger Eingeweide daraus hervor. Wilde schrie gellend auf. Blut floss ihm aus dem Mund und sammelte sich als Pfütze um seinen zuckenden Leib. Erst jetzt ließ der Unhold von ihm ab. Flint riss ihren Säbel an sich und spießte den Troll von hinten auf. Sterbend versuchte der, die Klinge festzuhalten, doch Flint zerrte sie mit einem Ruck wieder frei. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Wilde und beeilte sich, an die Seite des Tänzers zurückzukehren. Der hatte sich soeben der drei lästigen Trolle entledigt, konnte aber allein die Stellung nicht länger halten. Er brauchte ihre Unterstützung dringend. Sie schlug den nächsten Troll nieder und grinste frostig, als der, die aufgeschlitzte Kehle mit beiden Händen gepackt, zu Boden ging. Seinen Platz übernahm sofort ein anderer Troll. Der Tänzer wich einen Schritt von der Tür zurück; Flint folgte auf gleicher Höhe. Constance stand wie angewurzelt da und kämpfte mit ihren magischen Mitteln gegen den langsam um sich greifenden Nebel an. Flint und der Tänzer rückten noch einen Schritt zurück. Immer mehr Trolle zwängten sich in den Keller. Die drei Ranger wussten um die Vergeblichkeit ihres Kampfes, kämpften aber weiter, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Tief in der Erde unter dem Fort rührte sich das Biest. Die große Höhle erbebte in ihren Grundfesten. Gestein krachte und splitterte; gewaltige Felsplatten gerieten in Bewegung. In den Wänden taten sich Risse auf und von der Decke hagelte Steinschlag. MacNeil klammerte sich an der Höhlenwand fest, als der Sims unter seinen Füßen nachzugeben drohte. Vogelscheuchen-Jack verlor das Gleichgewicht und ließ die Fackel fallen, um sich mit beiden Händen festhalten zu können. Die lodernde Flamme verschwand im finsteren Abgrund und wurde nicht mehr gesehen. MacNeil setzte seine Laterne ab und eilte Jack zu Hilfe. Hammer hatte sich auf den Beinen halten können, wurde nun aber wieder von den nachfolgenden Leichen bedrängt, die sich von dem zerstörerischen Beben ringsum nicht im mindesten irritieren ließen. Eine rutschte vom Steig, stürzte in die Tiefe und war nach wenigen Augenblicken von der Dunkelheit verschluckt, die den Höhlengrund überlagerte. Davon unbeeindruckt, rückten die Leichen auf dem Felssims weiter vor, der plötzlich heftig auf und ab schlenkerte. Gleichzeitig klafften die Risse in der Wand noch weiter auseinander. Hammer verlor das Gleichgewicht und prallte mit MacNeil zusammen, der über Jacks ausgestrecktes Bein stolperte. Beide stürzten der Länge nach hin. MacNeil konnte noch im letzten Augenblick seine Hand in eine der Felsspalten rammen und sich so festhalten, doch Vogelscheuchen-Jack kippte über den Rand. Verzweifelt strampelte MacNeil mit den Beinen und traf Jack mit dem linken Fuß vor die Brust. Der packte instinktiv mit beiden Händen zu und konnte sich somit abfangen, pendelte aber hilflos über dem Abgrund. MacNeil zwängte seine Fäuste tiefer in den Spalt und keilte sich darin fest. Für eine Weile wagten es weder er noch Jack, sich zu bewegen. Dann hangelte sich Jack mit Klimmzügen an MacNeils Körper nach oben. MacNeil stöhnte laut auf vor Schmerzen, die ihm durch die doppelt belasteten Hände und Arme fuhren. Und als Jack endlich den Sims erreichte, stieß MacNeil einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Jack kletterte auf den Steig, und MacNeil richtete sich unter Schmerzen wieder auf. Er plierte kurz in die Tiefe, blickte aber sofort wieder nach vorn. Der Abgrund machte ihn schaudern. Er reichte Jack die Laterne und warf einen Blick über die Schulter zurück, um zu sehen, wie es Hammer erging. Der Fels bebte noch immer, aber nicht mehr so stark. Aus allen Ecken der Höhle war ein Knirschen und Rütteln zu hören, und irgendwo in der Tiefe rumorte es dumpf. Der Leichenzug riss plötzlich ab. Hammer streckte die Letzten nieder, die aus dem Tunnel drängten, und schickte sie in die Dunkelheit des Abgrunds. Langsam senkte er das Schwert und stützte sich darauf. Er war sichtlich müde. MacNeil atmete tief durch. Die Toten der Grenzfeste hatten sie, die Eindringlinge, zur Mündung des Hauptstollens zurückgedrängt und sich dabei bis zum Letzten aufgerieben. MacNeil sah Hammer an und winselte unwillkürlich. Das Infernaleisen glühte blendend hell. Hammer lehnte mit geschlossenen Augen auf dem Schwert. Die Brust ging ihm keuchend auf und ab und sein Gesicht badete in Schweiß. Der Albtraum war für ihn noch nicht vorbei; im Gegenteil, er hatte gerade erst begonnen. Laut stöhnend kniff er die Augenlider fest zusammen.  MacNeil und Vogelscheuchen-Jack sahen einander an. Die Gefahr der Leichen war abgewehrt, doch das Beben dauerte an, weshalb es ratsam schien, die Höhle schnellstens zu verlassen. Hammer aber rührte sich nicht. »Hammer?«, rief MacNeil, laut genug, um das Gepolter rollender Steine zu übertönen. »Was ist los, Hammer? Was hast du?« »Das Schwert«, krächzte er heiser und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Die Knöchel der Hand traten weiß zum Vorschein, so fest hielt er das Heft umklammert. »Dieses verfluchte Schwert. Ich habe es zu lange geschwungen, allzu lange in Versuchung gebracht… Es ist erwacht.« MacNeil schaute sich fragend nach Jack um. Der nickte mit dem Kopf. »Er hat Recht, Sergeant. Das Schwert ist lebendig und bei Bewusstsein. Ich spüre es.« MacNeil wandte sich wieder Hammer zu. »Steck es in die Scheide zurück. Wir brauchen es nicht mehr, Hammer. Beruhige dich und steck es wieder weg.« »Idiot!«, blaffte Hammer. »Es lässt sich nicht einfach wegstecken. Das verfluchte Ding ist wach und voller Heißhunger. Du ahnst nicht, welche Gewalt in ihm steckt, eine Gewalt, wie du sie dir in den schlimmsten Albträumen nicht vorstellen kannst. Damit ließe sich die ganze Welt vernichten, dass von ihr nichts weiter übrig bleiben würde als ein stinkender Haufen Dreck. Und das Schwert will, dass ich diese Gewalt anwende.« MacNeil schluckte. Er wollte leugnen, was er da hörte, allein, es war ihm unmöglich. Das Höllenschwert barg eine Macht, die im Rhythmus des blinkenden Lichtes pulsierte, so stark, dass selbst er sie spüren konnte. Er versuchte, Hammers Unaufmerksamkeit zu nutzen, um ihm die Waffe aus der Hand zu reißen. Doch der Bandit hatte sich blitzschnell wieder gefasst. Er sprang zurück und richtete die Schwertspitze auf MacNeils Brust. »Ich warne dich. Wenn du das noch mal machst, werde ich dich töten. Töten müssen.« »Hammer…« »Ich könnte das Eisen beherrschen. Ja, ich könnte es, brauchte allerdings nur noch etwas mehr Zeit.« Aus der Tiefe der Höhle tönte ein fettes, ekliges Grunzen. Wie von einem Riesenschwein vor seinem Trog. Das Echo schwirrte scheinbar endlos lange durch den Raum, und nach wie vor bebte der Berg. Feiner Sand rieselte von der Decke. Wieder wurde dieses mächtige Grunzen laut; es klang diesmal wie Donnerhall. Hammer, MacNeil und Vogelscheuchen-Jack starrten hinab ins Dunkle. Tief unten auf dem Höhlengrund zeichnete sich eine Spur silbrigen Feuers ab. Sie war einige hundert Schritt lang, erstreckte sich über die gesamte Fläche und zerteilte die Finsternis. Und dann wurde dieser Teilstrich allmählich breiter. Gleichzeitig nahm das Feuer an Heftigkeit zu. Silbriger Glanz erfüllte die Höhle, gleißend hell und stechend. Erst als sich aus dem dunklen Rückraum ein riesiger goldener Kreis in das Licht bewegte, erkannte MacNeil, dass er das Aufschlagen eines einzigen, riesigen Auges miterlebte. Das riesige dunkle Lid zog sich langsam zurück und enthüllte ein Auge, das den gesamten Höhlengrund ausfüllte. Die goldene Pupille starrte MacNeil entgegen und war voller Verachtung. Er wollte wegschauen, doch das Auge hielt ihn mit dem fürchterlich starren Blick einer alten, zürnenden Gottheit in Bann. Das gib's doch nicht, dachte MacNeil benommen. Hundert Schritt in der Breite — so groß kann doch kein Auge sein… Er versuchte, die Größe des Biests zu ermessen, doch seine Dimensionen überstiegen das menschliche Vorstellungsvermögen. Tief in der Erde hat es früher Riesen gegeben. Die Luft fing plötzlich zu schwingen an, aufgerührt wie von einer mächtigen, gebieterischen, aber lautlosen Stimme. MacNeil starrte ins Auge des Biests, und die Stimme forderte ihn lautlos auf, sich zu ergeben. Je länger er in die Pupille starrte, desto gefügiger wurde er. Tränen der Hilflosigkeit rannen ihm über die Wangen; der silberne Glanz blendete seine Augen, doch er konnte sie nicht abwenden. MacNeil starrte in das Auge des Monstrums, und alles andere verlor an Kontur und erblasste. Alles, was ihm Sorgen, Angst oder Ärger bereitete, schien von ihm abzulassen und verlor an Bedeutung. Das Einzige, was noch zählte, war die lautlose Stimme und der Wunsch, ihr zu gehorchen. Er fühlte sich sicher, warm und behaglich; nichts und niemand würde ihm jemals wieder Schaden zufügen können. Er wäre aller Sorgen entledigt, wenn er nur dem Biest gehorchte. Wenn er sich von seinen Pflichten loslöste. Pflicht. Das Wort schlug in seinem Kopf an wie eine Glocke. Er fühlte sich seinem Königreich verpflichtet und tat darum als Ranger seinen Dienst. Aus Pflicht hatte er in der langen Nacht gegen Dämonen gekämpft. Zur Pflicht gehörte auch ein Ehrgefühl. Jetzt begriff MacNeil, warum er in all den Jahren seinen Posten nie verlassen hatte und sich dazu auch in Zukunft niemals hinreißen lassen würde, gleichgültig was passieren mochte. Er hatte es schon häufig mit der Angst zu tun bekommen; daran war nichts Ehrenrühriges. Nur für Idioten und Tote gab es keine Furcht. Aus dem Gefühl für Pflicht und Ehre aber konnte Mut erwachsen, Mut, der gebraucht wurde um zu tun, was getan werden musste. MacNeil stöhnte laut auf und wandte sich mit einem Ruck vom Anblick des riesigen Auges ab. Er kehrte ihm den Rücken und drückte sein Gesicht an den kalten, unnachgiebigen Fels der Höhlenwand. Sein Herz raste. Er keuchte so heftig, als wäre er in voller Rüstung eine Meile weit gerannt. Schweiß rann ihm von der Stirn und brannte in den Augen. Verstand und Seele drohten verloren zu gehen, und das war ihm bewusst. Er zitterte am ganzen Körper und ballte die Hände zu Fäusten zusammen. Er zwang sich zu gleichmäßigen, tiefen Atemzügen. Wieder ein wenig ruhiger geworden, drehte er sich von der Höhlenwand weg. Der grelle silberne Glanz traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, aber die gebieterische Stimme meldete sich nicht mehr. MacNeil wusste, warum. Er hatte sich ihr verschlossen. Zur Seite blickend, sah er, dass Hammer und Jack immer noch wie verzaubert in das strahlende Auge starrten. Vogelscheuchen-Jack rief die Bäume zu Hilfe, doch deren Antwort blieb aus. Er hatte sich allzu weit von seinem Wald entfernt. Hier befand er sich in der Domäne des Biests. Seine donnernde Stimme hallte durch seinen Kopf, überlagerte alle Gedanken und Erinnerungen. Jack brauchte die Kraft der Bäume. Er griff mit allen Sinnen aus, kämpfte energisch gegen die Stimme des Ungeheuers an und versuchte stattdessen, Zwiesprache mit den Bäumen zu halten. Der Wald war immer noch für ihn da; er breitete sich auf weiter Flur über der Höhle aus und stand ihm mit all seiner uralten Kraft zu Diensten. Soeben erst erwacht, war das Biest noch matt und träge. Doch seine Stimme dröhnte schon unerträglich tief. Jack bot all seinen Widerwillen auf, brüllte ihr sein Nein entgegen und griff ein letztes Mal aus. Endlich hörten ihn die Bäume und liehen ihm ihre Kraft. Sofort verlor das Biest den Zugriff auf seinen Verstand. Er schüttelte ihn ab wie einen bösen Traum und atmete befreit auf. Eiskalte Luft füllte seine Lungen und machte ihn hellwach. Er sah, wie nahe er am Abgrund stand und wich schnell zurück. MacNeil nickte ihm zu, bemerkte aber, dass er noch zu benommen war, um mit ihm zusammen Hammer unter die Arme zu greifen. Dessen Gesicht war zu einer entsetzlichen Fratze verzerrt und die Hände hielten krampfhaft das Langschwert umklammert, doch er konnte sich vom Anblick des riesigen Auges nicht losreißen. Das Biest hielt ihn in seiner Gewalt. MacNeil fluchte leise vor sich hin und straffte die Schultern. Er musste Hammer das Infernaleisen abnehmen, bevor es dem Biest zufallen konnte. Gegen es, das nun erwacht war, hatte MacNeil nur noch mit dem Höllenschwert eine Chance. Er rückte auf Hammer zu und streckte die Hand aus, um nach dem Schwert zu greifen. Hammer wirbelte herum und ließ die lange Klinge auf ihn einschwingen. MacNeil tauchte im letzten Augenblick darunter weg, spürte noch den Luftsog durch seine Haare fahren. Das Schwert traf vor die Felswand und blieb darin stecken. Und ehe Hammer es wieder freibekommen konnte, war ihm Jack von hinten in den Arm gefallen. MacNeil eilte hinzu, sah aber, dass sich Hammers Gesicht entspannt hatte und bar jeder Regung war. Hammer hatte seinen letzten Kampf verloren; durch seine Augen blickte nun das Biest. Er versuchte sich mit aller Macht aus Jacks Klammergriff zu befreien, doch in dessen Armen wirkte die Kraft der hohen Bäume. Dagegen kam Hammer einfach nicht an. MacNeil versetzte ihm einen wuchtigen Fausthieb in den Bauch, worauf ihn der Bandit nur ungerührt anstarrte. Er legte all seine Kraft in den Versuch, das Langschwert zu heben. MacNeil schlug ein zweites Mal zu, so fest er konnte - und auf die Kinnspitze gezielt. Doch Hammer zeigte keine Wirkung. Auch nicht auf die nachfolgenden Hiebe. Er überging sein Gegenüber, und obwohl von Jack fest umklammert und zurückgehalten, gelang es ihm, das Langschwert langsam, Stück für Stück, zu heben. »Tu doch was!«, keuchte Jack. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten.« MacNeil hob sein Schwert und schlitzte kurz entschlossen Hammers Kehle auf. Blut spritzte und klatschte vor MacNeils Brust und Arme. Doch der Bandit blieb davon scheinbar unbeeindruckt. Er kämpfte noch, als ihm schon alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war und der Blutstrom allmählich versiegte. Schließlich hörte er auch zu atmen auf, blieb aber dennoch aufrecht stehen, hielt das Infernaleisen gepackt und versuchte immer weiter, sich aus Jacks Umklammerung loszureißen. MacNeil traute seinen Augen kaum, als sich Hammer tatsächlich löste und Jack zurückstieß. Der stolperte und stürzte - zu seinem Glück, denn Hammer hatte sich umgedreht und mit dem Langschwert nach ihm geschlagen, das nur um Haaresbreite sein Ziel verfehlte. MacNeil stieß einen Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf, um Hammers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der tat ihm den Gefallen. Seine Brust war blutüberschwemmt, doch die entseelten Augen folgten jeder Bewegung des Gegners, ohne mit der Wimper zu zucken. Hammer war von dem Biest besessen. MacNeil wich langsam über den schmalen Sims zurück. Er hütete sich davor, die eigene Waffe mit dem Wolfsfluch zu kreuzen. Das Eisen würde durch seine Klinge fahren wie durch Papier. Aber weiter zurückzuweichen kam auch nicht infrage. Hammer würde entweder irgendwann attackieren oder kehrtmachen und auf Jack losgehen. MacNeil wusste immer noch nicht, wie er sich nun entscheiden sollte, als er sah, wie sich Jack geduckt von hinten an Hammer heranpirschte. MacNeil hatte die Lage schnell begriffen. Er nahm sein Schwert in beide Hände und stürmte, aus vollem Halse schreiend, auf Hammer ein. Um sich gegen den Angriff zu wappnen, wich Hammer einen Schritt zurück und stolperte über Jack, der gehockt hinter ihm kauerte. Hilflos kippte er um. Jack fackelte nicht lange und versetzte ihm einen Stoß, der ihn unweigerlich in den Abgrund schickte. Blitzschnell war MacNeil zur Stelle und hackte mit seinem Schwert auf Hammers rechten Arm ein, als der gerade über die Kante glitt. Die Klinge fuhr durch das Handgelenk, mit dem Ergebnis, dass das Infernaleisen klirrend auf dem Sims zu liegen kam, nach wie vor umklammert von der abgetrennten rechten Hand. Jack und MacNeil sahen Hammers Körper in die Tiefe stürzen und schließlich als kleinen schwarzen Fleck im grellen Licht des Riesenauges verschwinden. An die Felswand gelehnt, schnappten beide nach Luft. MacNeil fühlte sich schwindelig und wie betäubt im Kopf; die Beine zitterten vor Erschöpfung, doch noch war ihm, wie er wusste, keine Pause vergönnt. Er blickte auf das Infernaleisen, das glühend vor ihm auf dem Felssims lag. Langsam löste sich Hammers Hand vom Heft. »Und was tun wir jetzt?«, raunte Jack mit heiserer Stimme. »Jetzt töte ich das Biest«, antwortete MacNeil. Jack schaute in das große starrende Auge hinab und richtete dann den Blick zurück auf den Wolfsfluch. Erschaudernd wurde ihm klar, was MacNeil plante. »Könntet Ihr Euch das denn nicht ersparen?« »Nein«, erwiderte der Ranger. »Das ist meine Aufgabe, meine Pflicht.« Jack betrachtete ihn eine Weile. Dann nickte er kurz mit dem Kopf und sagte: »Ihr seid ein tapferer Mann, Sergeant. Viel Glück.« »Danke. Das kann ich brauchen. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst. Der Stollen, durch den wir gekommen sind, gehörte zum Traum des Biests. Wer weiß, ob es den noch gibt, wenn es stirbt.« »Sergeant… woher nehmt Ihr die Sicherheit, dass es durch das Eisen getötet werden kann?« »Warum sollte es sonst so große Angst vor dieser Waffe haben? Geh jetzt. Ich komme später nach.« »Ja«, sagte Jack leise. »Alles Gute, Sergeant.« Er salutierte, nahm die Laterne zur Hand und stieg über den Sims zurück in den Stollen. Allein zurückgeblieben, lauschte MacNeil und hörte, wie sich Jacks Schritte entfernten. Dann war es vollkommen still und er spürte die Gegenwart des Biests als ein Flirren der Luft ringsum. Seine Kraft nahm zu. Ich könnte laufen und mich aus dem Staub machen. Noch ist es nicht zu spät. Aber nein, ich laufe nicht davon. Er holte tief Luft und war selbst überrascht von seinem zittrigen Atmen. Die Augen auf den Wolfsfluch geheftet, steckte er das eigene Schwert in die Scheide zurück. Die Hände schwitzten; er wischte sie an der Hose trocken. Nie hatte er so große Angst verspürt wie in diesem Augenblick. Langsam kniete er nieder und fasste nach der Waffe, vorsichtig darauf bedacht, nicht mit Hammers abgetrennter Hand in Berührung zu kommen. Dann richtete er sich wieder auf. Das überlange Schwert lag verblüffend leicht in der Hand. Es glühte und strahlte ein krankes Licht aus. Und jetzt verstand MacNeil auch, warum Hammer das Schwert nur äußerst widerstrebend gezogen hatte. Vom Wolfsfluch ging ein verführerisches Flüstern aus, das von Macht und Möglichkeiten schwärmte und seine dunkelsten Träume und Fantasien ansprach. MacNeil erschauderte, als er die fremde Kraft wie ein schrecklich süßes Gift durch alle Fasern seines Wesens sickern spürte. Kein Wunder, dass Hammer dem Biest so schnell nachgegeben hatte. MacNeil schüttelte den Kopf frei und trat an den Rand des Felssimses heran. Von dem, was es jetzt für ihn zu tun galt, würde ihn weder das Biest, noch das Höllenschwert oder die eigene Angst abhalten können. Er packte das mit Lederstreifen umwickelte Heft mit beiden Händen und hielt das Infernaleisen mit ausgestreckten Armen vor sich. Das grelle Licht, das von der Klinge ausging, ließ ihn mit den Augen blinken. Vorsichtig rückte er mit den Stiefelspitzen bis über die Kante und schaute nach unten. MacNeil erinnerte sich an die Dämonen der langen Nacht, wie er auf dem Absatz hatte kehrt machen und davonlaufen wollen. Er hatte in seiner Furchtsamkeit immer eine Schwäche gesehen, einen charakterlichen Makel, den er sich nicht verzeihen konnte. Schwäche war ihm zuwider, bei sich wie auch bei anderen. Aber jetzt, da er allein an diesem schroffen Felsrand stand und auf das Riesenauge des Biests hinabblickte, erkannte er endlich die Wahrheit. Angst zu haben war keine Schande, ihr nachzugeben aber sehr wohl. Das Biest war aufgewacht, und wenn es wieder voll zu Kräften gekommen wäre, würde es die Welt vernichten und nach seinem eigenen schrecklichen Bild neu gestalten. Früher, in der Zeit von Finsterholz, hatte er gelobt, dass er lieber sterben wollte als so etwas widerspruchslos geschehen zu lassen. Dieses Gelübde galt nach wie vor, und trotz aller Angst schöpfte er Mut aus seiner Vorstellung von Pflicht und Ehre, Mut, den er brauchte, um das Notwendige zu tun. Kurz flog ihn der Gedanke an: Warum ich? Doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Weil kein anderer zur Stelle ist. Weil es deine Aufgabe ist und in deiner Verantwortung liegt. Er erinnerte sich, dem toten Kind gegenüber Rache geschworen zu haben, was seinen Entschluss noch weiter festigte. Ein einziger Seufzer war von ihm zu hören; dann senkte er das lange Schwert und zielte mit der Spitze auf das Auge des Biests. Lebwohl, Jessica, Giles. Ich war immer stolz darauf, euch als Partner zu haben. Lebwohl, Constance. Du bist, wie sich herausgestellt hat, eine sehr gute Hexe. Das Infernaleisen kreischte vor Rage in seinem Kopf, als es endlich ahnte, was er plante. MacNeil reckte sich. Er spürte die Felskante unter den Absätzen und die Leere unter den Stiefelspitzen. Für seine Höhenangst hatte er jetzt nur ein fades Lächeln übrig. Beide Hände fest um den Griff des Schwertes geschraubt, beugte er sich vor, sprang von der Kante ab und stürzte kopfüber in die Tiefe. Die eiskalte Luft sauste an ihm vorbei, als er, das Infernaleisen voran, auf das Biest zuflog. In seinem Kopf schrien Schwert und Ungeheuer lautlos auf, doch er lachte über beide. Das Auge rückte rasend schnell näher. Bald füllte dessen Silber und Gold MacNeils gesamten Gesichtskreis aus. Er starrte in ein Meer aus gleißendem Licht. Und schließlich tauchte das Schwert darin ein, getrieben von der Wucht des langen Sturzes. Zusammen mit der Waffe verschwand MacNeil im Leib des Biests, das nach einem kurzen Augenblick tiefer Stille gellend zu schreien anfing. Abschied Der Schrei riss plötzlich ab und die Stimme des Biests verstummte für immer. Im Kellergewölbe löste sich der Nebel auf. Er zog sich in die Mauern zurück und verschwand spurlos. In der klaren Luft konnte sich das Fackellicht wieder ungehindert ausbreiten. Es wurde heller und die Schatten wirkten nicht mehr gar so dunkel. Der Tänzer streckte die letzten beiden Trolle nieder und sah sich verwundert um, als er gewahrte, dass keine weiteren nachrückten. Flint setzte sich auf dem blutüberströmten Boden nieder und schloss die Augen. Constance ließ die Hände an die Seite zurückfallen und senkte den Kopf vor Erschöpfung. »Es ist tot«, sagte sie leise. »Das Biest ist tot.« »Bist du sicher?«, fragte der Tänzer. »Ja. Ich spüre es genau.« Seufzend zuckte der Tänzer die Achseln und steckte das Schwert in die Scheide. Dann warf er einen Blick auf Flint und eilte zu ihr. Als er die Wunde sah, an der Stelle, wo einst das linke Ohr gesessen hatte, entfuhr ihm ein zischend gehauchter Fluch. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und drückte es sanft an ihren Kopf. Sie wimmerte und schlug protestierend die Augen auf, hob dann aber selbst die Hand, um das Taschentuch an Ort und Stelle zu halten. Die Zähne aufeinander gebissen, ließ sie es geschehen, dass der Tänzer einen Streifen Tuch um ihren Kopf wickelte, der den Notverband auf der Wunde fixieren sollte. Schweiß trat ihr vor die Stirn; ihr wurde übel und schwindelig vor Schmerzen. Trotzdem rang sie sich zum Dank ein Lächeln ab, als der Tänzer ihr besorgt in die Augen schaute. »Wir haben gewonnen, Giles. Wir haben tatsächlich gewonnen.« »Sieht so aus, Jessica.« »Wenn sich so ein Sieg anfühlt, wäre ich nicht gern dabei, falls ihr eine Niederlage einstecken müsst«, sagte Wilde. Flint sah sich schnell um, und mit Giles' Hilfe trat sie herbei und ging neben dem gefallenen Bogenschützen in die Knie. Auf dem Rücken liegend, starrte er mit schmerzerfüllten Augen unter die Decke und hielt mit beiden Händen das Gedärm zurück, das aus dem aufgeplatzten Unterleib hervorzuquellen drohte. Rings um ihn herum hatte sich eine große Blutlache gebildet. Blut trat ihm auch aus dem Mund und rann übers Kinn. Er konnte nicht einmal mehr den Kopf heben, als sich Flint über ihn beugte und eine Hand auf seine Hände legte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Tänzer, der kurz den Kopf schüttelte. Auch Constance kniete sich neben Flint auf den Boden. »Kannst du nichts für ihn tun?«, fragte Flint leise. Die Hexe schüttelte den Kopf. »Ich hab all meine Zauberkraft verausgabt. Es dauert, bis sie wieder nachwächst.« »So viel Zeit bleibt mir nicht mehr«, sagte Wilde. Er schluckte unter Schmerzen. »Typisch. Ich hab immer nur Pech gehabt.« »Bleib ruhig liegen«, sagte Flint. »Wozu? Schlimmer kann's gar nicht wehtun. Wo ist der Tänzer?« »Hier. Ich bin hier, Wilde.« »Ich bin nicht mehr zu retten. Aber es könnte noch eine Weile dauern, bis ich endlich sterbe. Mir wär's lieber, es ginge schneller zu Ende. Tu mir den Gefallen. Sorg dafür, dass ich wenigstens mit einem Rest an Würde abtreten kann.« »Sprich nicht so«, sagte Flint in gereiztem Tonfall. »Es gibt noch Hoffnung.« »Nein, die gibt es nicht«, widersprach Wilde und rang nach Luft. Flint wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Wilde grinste bitter. »Du warst immer schon die Sanfte, Jess. Wie wär's jetzt mit einem letzten Kuss, eh? Zum Abschied. Und danach verschafft mir der Tänzer einen anständigen Abgang.« Flint hatte gegen Tränen anzukämpfen, musste aber unwillkürlich schmunzeln. »Du warst schon immer ein Romantiker, Edmond.« Sie beugte sich weiter vor, wischte mit dem Ärmel Blut von seinen Lippen und gab ihm einen zarten Kuss. Wilde hob die Hand und umfasste streichelnd ihre linke Brust. Halb erschrocken, halb amüsiert, richtete sich Flint wieder auf. Wilde nickte dem Tänzer zu, der daraufhin seinen Dolch zur Hand nahm und umstandslos in Wildes Herz stieß. Der Bogenschütze verkrampfte und grinste Flint zu. »Von wegen Romantiker.« Und dann hauchte er mit einem langen Seufzer sein Leben aus. Die Augen brachen. Flint griff mit zitternder Hand aus und drückte ihm die Lider zu. »Adieu, Edmond. Ich wünschte, es wäre anders für dich ausgegangen.« »Jessica?« Der Tänzer sah sie an. »Ich musste es tun.« »Natürlich. Danke, Giles.« »Was machen wir jetzt?«, fragte Constance. »Die Trolle sind besiegt, das Biest ist tot. Aber was ist mit Duncan, mit Jack und Hammer?« »Wir sollten uns eine Weile ausruhen«, schlug Flint vor. »Duncan und die anderen werden bald zurück sein.« »Und wenn nicht?«, fragte Constance ruhig. »Was, wenn nicht?« »Dann steigen wir nach unten und suchen sie«, antwortete der Tänzer. Vogelscheuchen-Jack taumelte durch den Stollen und hielt die Laterne am schmerzenden Arm vor sich ausgestreckt. Er wusste nicht mehr, wie lange er schon unterwegs war. Jedenfalls taten ihm die Füße schrecklich weh und die Laterne war so schwer geworden, dass er sie kaum noch zu halten vermochte. Wie in Trance schleppte er sich weiter. Das Echo seiner schlurfenden Schritte war schnell verhallt. Er versuchte, den Wald zu Hilfe zu rufen, was ihm aber nicht gelang. Er war zu müde und zerstreut. Ihm schwirrte der Kopf und er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ernstliche Sorgen brauchte er sich nicht zu machen; das war ihm klar. Ein paar Stunden Schlaf - und er wäre wieder auf der Höhe. Er war geneigt, sich auf den fest getrampelten Lehmboden des Stollens zu legen, ahnte aber, dass er später womöglich nicht mehr die Kraft fände, wieder aufzustehen. Und darum tappte er weiter, mit hängendem Kopf, schwerfällig Schritt für Schritt. Er hatte das Biest schreien hören, doch das qualvolle Geheul war längst verhallt, in den Stollen wieder Stille eingekehrt. Es war alles beim Alten geblieben. Jack fragte sich, ob die Träume des Biests mit dessen Tod wohl ausgeträumt sein würden und ob es ihn womöglich selbst träfe, da er sich ja in einem dieser Träume bewegte. Es tat sich aber nichts. Oder, falls doch eine Veränderung eingetreten war, so hatte er nichts davon bemerkt. Nein, dermaßen müde und erschöpft konnte nur sein, wer noch lebte. Wenn aber die Träume immer noch so wirklichkeitsnah erschienen, war das Biest vielleicht gar nicht ganz tot. Der Gedanke schreckte ihn aus seiner Benommenheit hoch. Er blieb stehen und sah sich um. Das Biest war tot. Kein Zweifel. Das Infernaleisen hatte es ein für allemal unschädlich gemacht… Trotzdem, er wollte auf Nummer Sicher gehen. Er nahm mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Boden Platz, weitete behutsam sein Bewusstsein und versuchte, mit den Bäumen Zwiesprache zu halten. Zwar war er immer noch zu weit weg, um mit dem Wald in Verbindung treten zu können, spürte aber doch ganz deutlich, dass von der dunklen, unheilvollen Präsenz des Biests nichts übrig geblieben war. Es schien, als hätte es nie existiert. Jack stand wieder auf und grinste trotz schmerzender Glieder. Vielleicht gab es ja doch noch einen Rest an Gerechtigkeit in der Welt. Mit diesem tröstlichen Gedanken setzte er seinen Weg durch den Stollen fort. Nach einer Weile fiel ihm eine eigentümliche Veränderung der Schatten auf, die vor ihm lagen. Er hob die Laterne hoch in die Luft und plierte ins Dunkle. Sein Herz hüpfte vor Freude, als er sah, wie sich aus dem Licht-und-Schatten-Muster weiter vorn die Umrisse einer Holzstiege herausbildeten. Er war also fast am Ziel, musste nur noch über die Stufen nach oben steigen und durch die Falltür klettern, um endlich die Dunkelheit hinter sich lassen zu können. Am Fuß der Treppe angekommen, blieb er stehen und runzelte die Stirn. Er erinnerte sich daran, wie endlos lang der Abstieg gewesen war. Ihm wurde ein wenig bange. Doch dann besann er sich. Gleichgültig, wie viele Stufen es auch sein mochten. Er hatte es fast geschafft und wollte sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Er war auf dem Weg nach Hause, in den Wald. So schnell es seine müden Beine erlaubten, hastete er die Holzstiege hinauf. In der Hoffnung, die Falltür zum Keller möglichst bald ausmachen zu können, hielt er die Laterne am weit ausgestreckten Arm, aber lange Zeit sah er nichts als Stufen und Dunkelheit. Erst als der Raureif in den Haaren zu schmelzen begann und wie Tränen übers Gesicht perlte, bemerkte er, dass die Kälte mehr und mehr nachließ. Ja, es wurde geradezu warm. Kribbelnd kehrte Leben in Hände, Füße und Gesicht zurück. Was sich dann wie tausend Nadelstiche anfühlte, peinigte ihn so sehr, dass er die Zähne aufeinander beißen musste. Trotzdem lächelte er und sein Grinsen wurde so breit, dass ihm schließlich auch noch die Wangen wehtaten. Als plötzlich die Falltür über ihm auftauchte, musste er jäh anhalten, um nicht mit dem Kopf davor zu stoßen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Was, wenn die Luke verriegelt und verrammelt und niemand zur Stelle wäre, der sie öffnen konnte? Für immer würde er dann in der dunklen Falle stecken… Aber Jack mochte über diese Möglichkeit nicht länger nachdenken. Er griff mit der freien Hand aus und stemmte sie unter die Tür. Sie ging einen Spalt auf, fiel dann aber wieder zu. Jack fluchte leise vor sich hin. Er hatte vergessen, wie schwer der Eichendeckel war. Er setzte die Laterne auf der obersten Stufe ab und nahm auch den anderen Arm zu Hilfe. Wieder ließ sich die Tür nur ein Stück weit bewegen. Jack holte tief Luft und bot alle Kraft auf, die ihm geblieben war. MacNeil hatte das Offnen der Klappe so leicht aussehen lassen. Doch auf einmal war ihr die Last genommen und die Klappe wurde von oben aufgezogen. Licht flutete durch die Öffnung. Jack war geblendet und sah nichts, fühlte sich aber von starken Händen aus dem Schacht gezogen, raus aus der Unterwelt und hinauf ins Kellergewölbe. Flint und der Tänzer ließen die Falltür wieder zuklappen, und Constance half Jack dabei, sich hinzusetzen, ehe die Beine unter ihm wegknickten. Er grinste glücklich, als er endlich wieder sehen konnte, entsann sich aber dann der schlechten Nachrichten, die er mitzuteilen hatte. »Ich bin der Einzige«, sagte er leise. »Hammer und Sergeant MacNeil werden nicht zurückkommen.« »Sind beide tot?«, fragte Constance nach. »Hammer mit Sicherheit und wahrscheinlich auch der Sergeant. Er hat sich geopfert, um das Biest zu vernichten.« »Was ist passiert?«, wollte der Tänzer wissen. »Sergeant MacNeil hat sich mit dem Wolfsfluch dem Ungeheuer entgegengeworfen.« Jack senkte den Blick, aber dann hob er das Gesicht und schaute dem Tänzer in die Augen. »Ich hätte es auch getan, aber das wollte er nicht zulassen. Er sagte, es sei seine Pflicht. Er war ein tapferer Mann, der tapferste, dem ich je begegnet bin.« »Ja«, bestätigte Flint. »Das war er.« Es blieb für eine Weile still. Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Constance verlor auch den letzten Rest an Kraft, den sie aufgespart hatte, um MacNeil willkommen zu heißen - den sie jetzt aber nicht mehr brauchte. Er war tot. Sie hatte nie eine passende Gelegenheit gefunden, ihm zu sagen, wie sie für ihn fühlte. Und jetzt war es zu spät dafür. »Was ist mit Hammer passiert?«, fragte der Tänzer. »Er hat Bekanntschaft mit etwas gemacht, das noch grausamer war als er selbst.« Jack sah sich um und bemerkte erst jetzt all die toten Trolle am Boden liegen. »Es scheint, auch ihr hattet alle Hände voll zu tun.« »Zu langweilen brauchten wir uns jedenfalls nicht«, sagte Flint. »Wir haben das Gold gefunden«, berichtete Jack. »Es ist alles da. Ich werde euch später den Weg dorthin aufzeichnen.« »Und was ist mit all den Verschollenen?«, fragte Constance. »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Jack. »Und keine angenehme. Ich werde sie euch schon noch erzählen.« Sein Blick fiel auf Wilde, der reglos am Boden lag. »Ist er wenigstens mit Anstand gestorben?«, fragte Jack nach längerem Schweigen. »Ja«, antwortete Flint. »Er hat sein Leben für mich geopfert.« Jack nickte. »Ich hab ihn zwar nicht leiden können, aber er konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen. Immerhin ist er im Kampf für eine gute Sache gestorben. Er war einmal ein Held, wisst ihr das eigentlich?« »Ja«, sagte Flint. Sie sah Jack an. »Bist du sicher, dass Duncan tot ist?« »Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Jack. »Ihm war klar, dass er sterben muss, als er sich auf das Biest geworfen hat. Daran bestand auch für mich kein Zweifel.« »Hast du denn seine Leiche gesehen?« »Nein.« »Dann besteht noch Aussicht darauf, dass er lebt«, sagte der Tänzer. Er wandte sich Constance zu. »Kannst du sehen, wo er steckt? Und was mit ihm passiert ist?« »Leider nein«, antwortete die Hexe. »Ich bin mit meinen Kräften am Ende. Es wird Wochen dauern, bis ich wieder hellsehen kann.« »Er ist tot«, sagte Jack. »Es tut mir Leid, aber so ist es.« Flint wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines anderen. Und für eine Weile herrschte betretenes Schweigen. »Na gut«, sagte Flint schließlich. »Gehen wir nach oben. Die Nacht verbringen wir im Speisesaal. Morgen steigen wir dann runter in die Stollen und versuchen, Duncans Leiche zu bergen.« »Genau«, sagte der Tänzer. »Wir können ihn hier schließlich nicht zurücklassen.« Duncan MacNeil wachte auf. Der ganze Körper tat weh und der Rücken war auf der gesamten Länge ein einziger stechender Schmerz. Er stöhnte laut auf und versuchte den Kopf zu heben, aber selbst das war ihm jetzt zu viel. Als er die Augen öffnete, sah er nichts als Dunkelheit. Er blieb ruhig liegen, sammelte alle verbliebene Kraft zusammen und fragte sich, wo er wohl sein mochte. Unter dem schmerzenden Rücken spürte er einen harten, unnachgiebigen Sockel, der offenbar so wenig Platz bot, dass beide Beine und ein Arm darüber hinausragten. In der Luft hing ein scheußlicher, fauler Gestank, der ihn zum Würgen reizte. Erneut versuchte er den Kopf zu heben, was ihm diesmal auch gelang. Aber zu sehen war immer noch nichts. Natürlich nicht, dämmerte es ihm; hier unten ist kein Licht… Er erinnerte sich wieder und sein Herz ließ einen Schlag aus, als ihm erneut in den Sinn kam, dass er sich in das glühende Auge des Biests gestürzt hatte. Auf der Suche nach Halt griff er mit der Hand um sich und stellte zu seinem großen Schrecken fest, dass er auf einer schmalen Kante lag, die nach mehreren Seiten hin jählings abfiel. Weiter tastend, stieß seine Hand auf einen unangenehm weichen, schwammigen Gegenstand. Schnell zog er die Hand zurück und rührte sich nicht, bis Puls und Atmung wieder regelmäßig waren. Um Licht ins Dunkel bringen, kramte er den Kerzenstummel aus der Tasche, den er für den Notfall immer bei sich trug. In seiner prekären Lage Feuerstein und Stahl aus dem Stiefel zu ziehen und damit Funken zu schlagen, erwies sich als ein Albtraum der besonderen Art. Dennoch schaffte er es schließlich, den Kerzendocht zum Brennen zu bringen. Er lag auf einem schmalen Knochenvorsprung, umgeben von dunklen Wänden aus verrottendem Fleisch. Über sich sah er die Öffnung eines Tunnels. Ein gleich großes Loch klaffte unterhalb der Stelle, wo er lag. Vorsichtig richtete sich MacNeil auf und schirmte den Kerzenstummel mit zitternder Hand ab. Jetzt wusste er, wo er war: im Kadaver des Biests. Er war durch sein Auge ins Gehirn gestürzt. Die gallertartige Masse im Innern des Augapfels hatte seinen Sturz abgebremst und auf eine weiche Landung im Gewebe darunter vorbereitet. Das Infernaleisen hatte sich offenbar selbständig gemacht und war mit zerstörerischer Wucht weiter durchs Gehirn gedrungen, was den fortgesetzten Tunnelverlauf erklärte. Wie tief der Wolfsfluch vorgestoßen war, ließ sich nicht erkennen. Jedenfalls hatte das Biest den Einstich nicht überlebt. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Wohin MacNeil auch blickte, überall sah er deutliche Anzeichen von Verfall und Fäulnis. Und das Infernaleisen war verschwunden, verloren in den Tiefen des verwesenden Riesenkörpers. Und da kann es von mir aus auch bleiben, dachte Mac-Neil. Er stellte sich auf die noch wackligen Beine und blickte in den Tunnel über seinem Kopf. Die Öffnung war so groß wie sein Kopf und in erreichbarer Nähe. Nur durch sie würde er, wie es schien, nach draußen gelangen können, ob ihm das gefiel oder nicht. In seinem geschundenen Zustand zu klettern, würde jedenfalls kein Leichtes sein, zumal nicht abzusehen war, wie weit er steigen musste. Plötzlich fing der Knochenvorsprung, auf dem er stand, zu knarren und zu knacken an. Mit Blick nach unten sah er, dass sich auf der beinernen Oberfläche feine Risse bildeten. Der Verfall des Biests beschleunigte sich. Er hatte keine andere Wahl. Er musste die Zeit nutzten, die ihm noch blieb, und nach draußen zu klettern versuchen. Stürzte er noch tiefer in den Kadaver hinein, käme er wahrscheinlich nie mehr heraus, selbst wenn er auch einen zweiten Sturz überlebte. MacNeil ließ flüssiges Wachs von der Kerze auf die Schulter tropfen, um den Stummel darauf festzukleben. Von dem Sturz durchs Auge war er ganz und gar mit einer übel stinkenden Schleimschicht überzogen, doch der Kerzenstummel schien verschont geblieben zu sein und brannte einwandfrei. Zum Glück, denn MacNeil konnte sich um die Flamme nicht weiter kümmern und brauchte beide Hände zum Klettern. Er zog sein Messer aus der Scheide und schnitt ein paar Stufen und Haltegriffe in das faulende Fleisch der Tunnelöffnung über sich. Dann klemmte er das Messer zwischen die Zähne, würgte in Reaktion auf den ekligen Geschmack und zog sich in den Schacht hinein. Die Arme ächzten vor Anstrengung, aber bald hatte er sich so weit hoch gehievt, dass er mit den Füßen Tritt fand. Der lange Aufstieg konnte beginnen. In späteren Jahren erinnerte er sich nur noch in seinen schlimmsten Albträumen an das, was ihm hier abverlangt gewesen war. Der Aufstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. Im flackernden Kerzenschein sah er rotes bis violettes Fleisch, das an manchen Stellen bereits schwarz wurde. Ab und zu pulste schütteres Licht durch den Leichnam, und einmal hatte MacNeil den Eindruck, als starrte ihm durch das Fleisch ein seltsam verzerrtes Gesicht entgegen, was aber, wie er annehmen durfte, bloß eine Täuschung war, denn es zeigte sich nicht wieder. In den Beinen machte sich ein dumpfer Schmerz bemerkbar, der sich allmählich über Hüfte und Brust bis in die Arme ausbreitete. Auch der Rücken schmerzte immer mehr. Aber MacNeil konnte jetzt nicht Halt machen und ausruhen. Er wäre von den Stufen, die er in die weiche Wand schnitt, unweigerlich abgerutscht. Manchmal sprangen Splitter gebrochener Knochen aus dem Gewebe hervor, die er dann mühsam umklettern musste. Diese Knochen waren zwar noch ausreichend fest, faulten aber schon von innen heraus. Der Wolfsfluch hatte gründliche Arbeit geleistet. MacNeil kletterte weiter, kam in dem mürben Schlauch aber nur langsam voran. Schließlich gelangte er an die riesige Höhlung, in der einst das Auge des Biests gesteckt hatte. Jetzt war sie ein offener Krater, in dem hier und da Haufen von durchsichtigem Gallert herumlagen. MacNeil stieg aus dem Tunnelschlauch in den Krater hinein und gönnte sich eine Erholungspause, bis die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zurückgegangen waren. Der Kerzenschein reichte nur wenige Schritt weit, aber jenseits der gebogenen Kraterhänge funkelten nach wie vor die Kristalle in den Wänden der Grotte, die MacNeil auch noch erklimmen musste, um den Stollen erreichen zu können, der nach draußen führte. Vorausgesetzt natürlich, es gab diesen verflixten Stollen noch… MacNeil zuckte mit den Schultern. Solche Sorgen waren jetzt völlig fehl am Platz. Er machte sich auf den Weg durch den Krater und steuerte auf die nächstliegende Wand zu. Den Rest der Reise erlebte MacNeil in einer Art Dämmerzustand. An Einzelheiten konnte er sich später nicht erinnern, auch nicht in seinen Träumen. Vielleicht lag dies daran, dass er zu erschöpft und zu müde war, um Angst empfinden zu können. Der Kraterrand war jedenfalls schnell erreicht und sofort stieg er in die steile Felswand ein. Der Aufstieg erwies sich als nicht allzu schwierig, denn der Fels war, als sich das erwachende Biest gerührt hatte, an zahllosen Stellen aufgesprungen und bot darum viele Haltepunkte. Er balancierte über den Sims und schleppte sich durch den Stollen auf die Holzstiege zu. Er hatte das Denken inzwischen so gut wie eingestellt. Da gab es für ihn nur Schmerzen, Müdigkeit und seine hartnäckige Weigerung aufzugeben. Als er die Stiege erreichte, war die Kerze heruntergebrannt. Nach wenigen Stufen erlosch die Flamme schließlich und er musste den Rest des Weges in völliger Dunkelheit zurücklegen. So konnte es nicht ausbleiben, dass er, endlich am Ziel, mit dem Kopf vor die Falltür stieß. Der Aufprall machte ihn hellwach, und es überkam ihn ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn ihn die anderen für tot hielten, die Klappe verbarrikadiert und das Weite gesucht hatten? Er grinste grimmig. Eine verriegelte Falltür würde ihn jetzt, nach allem, was er durchgestanden hatte, auch nicht mehr aufhalten können. Nach Halt suchend, traf er auf der obersten Stufe mit der Hand auf Widerstand. Erschrocken zog er die Hand wieder ein. Was war das? Es hatte sich kalt angefühlt, wie Metall oder Glas. Vorsichtig tastete er wieder danach und erfühlte nun die vertraute Form seiner Laterne. MacNeil schmunzelte zufrieden. Jack hatte es also zurück geschafft. Er kramte Feuerstein und Stahl hervor und zündete die Laterne mit zitternden Fingern an. Nach langer Dunkelheit blendete ihn das Licht so sehr, dass die Augen zu tränen anfingen. Er wartete, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und stemmte dann seine Schultern unter die Klappe. Nachdem er tief Luft geholt hatte, drückte er mit aller Kraft. Im ersten Augenblick fürchtete er schon, die Klappe würde nicht nachgeben, doch dann ging sie einen Spaltbreit auf, und zwar so plötzlich, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen, und es gelang ihm nun, die Tür so weit aufzustoßen, dass sie laut krachend auf die andere Seite klappte. Der Kellerraum war dunkel. Unter Schmerzen kletterte MacNeil durch die Luke und traute seinen Augen kaum, als er die vielen toten Trolle sah. Bangend suchte er nach Hinweisen auf seine Freunde, fand aber nur eine menschliche Leiche: die von Wilde. MacNeil seufzte erleichtert und verließ den Keller. Auf dem Weg durch die labyrinthischen Gänge fragte er sich zum wiederholten Mal, ob die anderen womöglich schon abgezogen waren und ihn allein zurückgelassen hatten. Er konnte ja nicht wissen, wie lange er ohnmächtig im Kadaver des Biests gelegen hatte. Falls die Freunde aber noch im Fort waren, hielten sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Speisesaal auf. MacNeil blieb stehen und war für eine Weile unentschlossen. Es drängte ihn nach draußen an die frische Luft, weg von all dem Blut und dem Wahnsinn, aber noch dringlicher brauchte er die Gesellschaft der Freunde. Also strebte er hoffnungsvoll dem Speisesaal entgegen. Es dauerte länger als geglaubt, um dorthin zu gelangen, denn er war so schwach, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Endlich aber stand er vor der Tür. Er zögerte und lauschte, konnte aber nichts hören. Schulterzuckend fasste er nach dem Knauf und warf die Tür so schwungvoll auf, dass sie vor die Wand knallte. Der Tänzer hielt Wache. Er sprang auf und hatte das Schwert gezückt, noch ehe der Aufschlag der Tür zum Echo führen konnte. Als er sah, wer vor ihm stand, klappte ihm die Kinnlade herunter. Jack, Flint und Constance richteten sich schlaftrunken auf und stierten auf die schauerliche Erscheinung im Türrahmen. Als der erste Schreck überwunden war, eilten alle vier herbei, um ihn zu begrüßen. Constance war als Erste zur Stelle und warf sich MacNeil stürmisch um den Hals, ungeachtet seiner blut- und schleimverschmierten Sachen. »Du lebst! O Duncan, ich wusste es. Ich wusste es!« Ihre Gefühle überschlugen sich. Es verschlug ihr die Sprache. Doch das war ihr jetzt gleich. Später würde sie sich wieder neu sortieren können. Dafür gäbe es noch genügend Zeit. Endlich ließ sie von ihm ab und gab den anderen Gelegenheit, MacNeil zu umarmen und auf die Schulter zu klopfen. Dem wurde all der Überschwang zu viel. Er musste sich ganz schnell setzen, um nicht der Länge nach umzukippen. Der Tänzer und Jack halfen ihm auf einen Stuhl, worauf MacNeil den Freunden wiederholt versichern musste, dass mit ihm alles in Ordnung sei und dass er nur etwas Ruhe brauche, um zu verschnaufen. Constance legte ihm eine Decke über die Schultern. Flint reichte eine Flasche Wein, die MacNeil dankend entgegennahm. »Erzähl uns, was passiert ist«, sagte Constance. »Du warst stundenlang weg. Hast du das Biest tatsächlich getötet?« »O ja«, antwortete er. »Es ist tot.« Er erzählte ihnen seine Geschichte und sie hörten stumm und staunend zu, wie Kinder, die einem Märchen lauschen. Als er mit seinem Bericht am Ende war, sprach lange Zeit keiner ein Wort. »Der Wolfsfluch ist also wieder verschollen«, bemerkte Flint schließlich. »Gut so. Das verdammte Ding hat mir die Haare zu Berge stehen lassen.« »Ja«, meinte MacNeil. »Ich werde in meinem offiziellen Rapport festhalten, dass das Schwert spurlos verschwunden ist. Hoffentlich für immer und ewig.« Er musste gähnen und reckte sich ausgiebig und genießerisch. »Und jetzt, liebe Freunde, bitte ich euch, mich zu entschuldigen. Ich will endlich raus aus den Klamotten, unter die Decken kriechen und eine Woche lang durchschlafen. Gute Nacht… und angenehme Träume.« Er schlief zehn Stunden, und es war schon später Nachmittag, als er endlich aufwachte. Jeder seiner Muskeln beschwerte ihn mit quälendem Nachdruck, aber immerhin hatte der Schlaf seinen Schmerzen die Schärfe genommen, sodass er fürs Erste mit ihnen leben konnte. Flint und der Tänzer saßen nebenan beieinander und unterhielten sich leise. Constance stellte eine Mahlzeit aus dem gemeinsamen Proviant zusammen und deckte einen der Tische. Von Vogelscheuchen-Jack war nichts zu sehen. MacNeil schmunzelte zufrieden. Er freute sich, noch unter den Lebenden zu weilen. Er legte sich auf den Rücken und starrte unter die Decke. Tief unten in der Erde hatte er angesichts des Biests seinen Mut auf die Probe gestellt und war zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Obwohl von Angst erfüllt wie nie zuvor in seinem Leben, hatte er, als es darauf ankam, das Richtige getan. Das zu wissen bedeutete ihm sehr viel. Widerstrebend warf er die Decken beiseite und zog frische Kleider an. Ein Blick auf die verdreckten, besudelten Sachen, die er getragen hatte, genügte, um ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr zu retten waren. Er führte die Hände an die Nase und schnüffelte argwöhnisch. Obwohl er sie in der Nacht zuvor gründlich gewaschen hatte, haftete ihnen noch immer der faule Gestank des Biests an. Vielleicht hatte die Verstärkung, die bald eintreffen musste, jemanden in ihren Reihen, der sich darauf verstand, den Warmwasserboiler zu reparieren. Dann würde er ein heißes Bad nehmen können. Von diesem Gedanken zum Lächeln gebracht, ging MacNeil auf Constance zu. Sie lächelte zurück und reichte ihm eine Kostprobe der kalten Feldration. Unter allen Gardesoldaten wurde seit jeher darüber gestritten, was schrecklicher war: Feldration kalt oder gekocht. Meist einigte man sich darauf, dass beides gleich übel schmeckte. MacNeils Appetit hielt sich in Grenzen. Um Constance aber, die sich all die Mühe mit der Zubereitung gemacht hatte, nicht vor den Kopf zu stoßen, griff er zu und stellte fest, dass er im Grunde doch sehr hungrig war. Er aß, was er bekommen konnte, und wünschte, es wäre mehr gewesen. Seufzend schob er den leeren Teller zur Seite, blickte auf und bemerkte, dass Constance noch immer geduldig neben ihm saß. »Jack wartet draußen im Hof auf dich«, sagte sie. »Er hält sich nicht gern in geschlossenen Räumen auf, möchte dir aber noch Leb wo hl sagen, bevor er geht.« »Eigentlich müsste ich ihn festnehmen«, erklärte MacNeil. »Aber…« »Eben«, sagte Constance. »Aber.« Sie schmunzelten sich gegenseitig zu. MacNeil stand schließlich vom Tisch auf und ging zur Tür. Flint und der Tänzer unterbrachen ihr Gespräch und standen ebenfalls auf, um ihm zu folgen. Wie gewöhnlich bildete Constance das Schlusslicht. Im Schein der Abendsonne wirkte das Fort kleiner und weniger bedrohlich, was vielleicht auch daran lag, dass das Böse, das in ihm gehaust hatte, verschwunden war. Nach all den schrecklichen Ereignissen sah es nun wieder aus wie eine ganz gewöhnliche Grenzfeste, und so sollte es auch bleiben. MacNeil führte seinen Trupp durch die Eingangshalle nach draußen in den Hof. Der Sturm hatte sich schon früh am Morgen gelegt und die Regenwolken waren weitergezogen. Die Sonne am blauen Himmel hatte das nasse Gemäuer getrocknet. Vogelscheuchen-Jack stand am offenen Haupttor und starrte in Richtung Wald. Als sich die Ranger näherten, drehte er sich um und nickte ihnen höflich zu. »Ihr seht heute schon sehr viel besser aus, Sergeant MacNeil. Kann ich Euch noch einen Gefallen tun, bevor ich gehe?« »Mir fällt keiner ein«, antwortete MacNeil betont heiter. Vogelscheuchen-Jack machte zwar einen entspannten Eindruck, war aber unverkennbar auf dem Sprung und bereit zu fliehen, falls er fürchten musste, gefangen genommen zu werden. Alte Gewohnheiten waren sehr anhänglich. MacNeil lächelte freundlich, um Jack zu beruhigen. »Übrigens, dein Name wird in meinem offiziellen Bericht nicht vorkommen. Aber tu mir bitte doch einen Gefallen: Halt dich nach Möglichkeit aus allem Ärger heraus, solange wir noch in der Nähe sind. Ich fänd's schrecklich, wenn mir befohlen würde, auf dich Jagd zu machen.« Jack grinste. »Glaubt ihr denn im Ernst, ihr könntet mich aufstöbern?« Alle lachten. Jack drehte sich um und schaute wieder in die Richtung des Waldes. »Du musst nicht gehen«, sagte Constance. »Du hast uns so viel geholfen, dass man dich bestimmt begnadigen würde. Du könntest nach Hause zu deiner Familie zurückkehren und ein neues Leben beginnen.« »Der Wald ist mir Zuhause und Familie«, entgegnete Vogelscheuchen-Jack. »Und dort bleibe ich, auch wenn man mich zehnmal begnadigen würde. Trotzdem, danke, Constance. Lebt wohl, meine Freunde.« Lachend lief er los, durch das Tor und hinaus auf die Lichtung. Helles Sonnenlicht begleitete ihn bis zum Waldrand. Wenig später war er, gut getarnt in seinen Lumpen, im Dickicht verschwunden. »Ich hab das Gefühl, wir hätten zuerst die Goldsäcke bergen und nachzählen und ihn erst dann laufen lassen sollen«, meinte Flint. MacNeil schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Ich würd's ihm nicht krumm nehmen, wenn er sich einen oder zwei unter den Nagel gerissen hätte, bin mir aber ziemlich sicher, dass er nicht einmal eine einzige Münze eingesteckt hat. Was nützt ihm das Gold im Wald? Kommt, wir sollten noch ein bisschen Ordnung schaffen, bevor die Verstärkung eintrifft. Und wir müssen uns noch darauf einigen, welche Geschichte wir ihr auftischen.« »Stimmt«, sagte der Tänzer. »Die Wahrheit wird man uns bestimmt nicht abkaufen. Ich war zwar dabei, kann aber selbst nur die Hälfte glauben.« Die vier Ranger lachten und machten kehrt. Vom blauen Himmel leuchtete die Sonne auf die friedliche und offene Grenzfeste.